Zwischen Iser und Neisse (H)

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Im „Schleiferlandl“

Das Land zwischen der Neisse und Iser ist eigentümlich schön. Meist ist es lieblich, hier und dort nur an einem zu Tal stürzenden Wasserlauf wird die Natur wildprächtig. Mächtige Wälder bedecken die Hänge, auf die ein Gigant die Granitblöcke geworfen hat, die sich seiner Pflugschar entgegenstellten, als er die tiefen Furchen in das Land zog, die heute in dieser buckligen Welt die Quertäler darstellen. Hügelland geht allmälig in Mittelgebirge über. Tal auf, Tal ab! Und in jedem Tal ein Wässerlein, das von den Höhen herabgesprungen kommt, um sich mit den Hauptläufen zu vereinen: mit der Neisse, der Iser und dem größten Bach des Landes, der schönen Kamnitz oder Kaminz, wie die Schleifer sagen. Ehe die Achen aber ihrem plätschernden Wanderdasein ganz überlassen werden, zwingen sie die Menschen in ihren Dienst. Dem Bachlauf entgegen steigen wir zur Höhe. Da, wo der Hang steiler wird und sich die Tropfenmilliarde förmlich überstürtz, sehen wir luftige Häuschen hingebaut mit gläsernen Fronten. Fenster an Fenster und dazwischen schmale Wandrippen aus Hold. Über dem Parterre zumeist ein Dachstübchen mit kleinen Fensterchen. Den Hang hinauf steht so an dem Wässerlein Haus um Haus, und guckst Du fürwitzig durch die Scheiben, so siehst Du drinnen im Staube Menschen sitzen, die förmlich eins sind mit den Holzmaschinen vor ihnen...Es sind die Schleifer mit ihren Radstühlen, und die so luftig hingebauten Holzhäuschen mit den gläsernen Wänden sind die typischen Schleifmühlen. In diesen wollen wir nun Einkehr halten und nach dem Treiben und – Leiden der darin Gefangenen sehen.

Die Schleifer sind ein gar lustiges Völkchen – leicht gelebt und leicht gestorben. Ihr urwüchsiger Humor übt sich gerne grausam an ihrem eigenen Leid. Die Galgenfrist, die ihnen zum Leben bleibt, wollen sie lustig sein: „Da saht har, ich bin a Schleifer, tausend Gild’n gäb’ich, wenn ich nich so dicke wär’, unterfotzt wie a Ra’nwurm, Beene wie a Zeisig.“ So zeichnen sie sich selbst mit wahrem Galgenhumor und haben die Lacher für sich. Diese Selbstverhöhnung ihres mageren, früh gealterten Kadavers, der mit 25 Jahren gewöhnlich reif ist für „Pfarrers Schleifmühl“ – wie im Schleiferlandl der Friedhof heißt – hat freilich auch ihre sehr ernste Seite,

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und manchem frohen Lacher mag später der tiefere Sinn dieser grausamen Selbstschilderung lebendig geworden sein. Es liegt darin und in so vielen anderen humorvollen Schleifersprücheln soziale Erkenntnis. Der Schleifer weiß genau, wie schlimm es um ihn steht, wie bitter sein Los ist. Mit dem Todeskeim zur Welt zu kommen, das Leben der Mühseligen und Beladenen kurz zu leben und dann sterben zu müssen, ehe noch ein Strahl echter Freude dieses Dasein beschienen. Dennoch sind heute noch Viele unter ihnen, die für die Bestrebungen zur Hebung ihrer Lage keinen Sinn haben. Sie sind abgestumpft gegen ihr eigenes Leid, gegen das Leid ihrer Kinder – da fahlt’s närnemieh (nimmermehr) dro – sie sind beinahe Fatalisten. Es ist mir so bestimmt, weil ich ein Schleifer bin, also sei es. Dennoch haben gerade die Organisationsbestrebungen unter den Schleifern schon viel gebessert, wenn sie dem unasgesetzten Schleifermord auch noch nicht ganz Einhalt gebieten konnten. Ringsum im Gebirge gibt es noch viele Mordbuden und viele Ortschaftgen, in denen der Schleiferwitz: „Du, o die Schleifer han a Methusalem; der Susenfranz is erscht mit 30 Jahr’n gestorb’n,“ volle Berechtigung hat.

Die Anderen freilich, die den Wert der Selbsthilfe durch Organisation der arbeitenden Hände erkannt haben, sind mit ganzer Seele bei der Sache, und Viele, die sich die Woche über in der Schleifmühle gerackert haben, marschieren am Sonntag stundenweit ins Gebirge, um weniger vorgeschrittenen Klassengenossen Auflärung und brüderlichen Rat zu bringen. Sie sind brave und hochintelligente Menschen, klar im Wollen und unerschrocken im Handeln, wenn es gilt. Diese waren es auch, die durch ihre Energie die Schleifer immer und immer aufpeitschten, so oft ihnen die Gefahr völliger Verelendung drohte, die durch Streiks und Konventionen die Löhne zu heben, die Arbeitszeit zu regeln suchten, die auf das gewissenlose Kleinunternehmertum einen Zwang ausübten, daß es Ventilationen in den Betrieben anbringe, um von den Schleifern wenigstens einen Teil der großen Gefahr abzuwenden, die sie in den glasstaubgeschwängerten Betrieben umgibt; sie waren es endlich, die dem „Örtlpacht“ oder „Dreherlohn“ zu Leibe gingen, der trotzdem wohl noch in mehreren Orten besteht. Diese tapferen Männer waren es auch, die der Kinderarbeit entgegentraten und ebenso dem kindermordenden Unfug, die Schleifmühlen zur Kinderstube zu machen. Ihre Energie gab den Anstoß zu der Arbeiterbewegung in Nordböhmen überhaupt. Es ist schon viel geschehen im Gebirge, und trotzdem ist noch nicht einmal die Hauptarbeit getan...Den zähen Geldmachern in Gablonz, den Exporteuren, muß jeder Kreuzer abgerungen werden, den sie auf einen Warenpreis zulegen. Unternehmerfrechheit konnte noch im

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Jahre 1898, einem bösen Krisenjahre auch für die Schleiferei, das Wort münzen: „Den Leuten geht’s gut. Sie haben noch einen Vorhang vor den Fenstern und sind anständig gekleidet. Was wollt Ihr noch mehr?“ Leuten dieses Schlages ist es lieb, daß ein Vorhang vor den Fenstern ist, sie können dann wenigstens nicht das Elend schauen, das hinter dem Vorhange sitzt, und sie werden nicht in ihrer Verdauung gestört.

Die Vertrauensmänner der Arbeiter aber lassen nicht locker. Sie sind sich ihrer Pflicht streng bewußt. Nach jeder gewonnenen Schlacht bleiben sie auf dem Wachtposten, nach jeder verlorenen sammeln sie neue Kräfte, um endlich den Feind jeder menschenwürdigen Lebenshaltung der Arbeiter unterzukriegen. Auch in diesem Zweige der Glaskleinindustrie treiben die Gablonzer Herren ja selbstmörderische Konkurrenz – immer natürlich nur auf Kosten der Arbeiter, die ihre materielle Lage wieder mit einem Scherzworte charakterisieren: „Geld ho ich genung, ock an Sunnt’che un ei der Woche kee’s.“ Oder sie sagen kürzer: „Arm bin ich ne, ich hab’ halt nischt.“ Kommen zwei Schleifer zusammen, so stoßt gerne einer den anderen an und sagt dabei: „ A gieh nor weg, ke arme Menschen kann ich nie leiden.“ Bringt der Lieferant einen Sack neuer Ware in die Schleifmühle zum Schleifen, da verleitet die Aussicht auf die paar Groschen, die daran zu verdienen sind, die Schleifer zu dem Ausruf: „Ne, da wird die Gousche wieder giehn“, was so viel heißt, als daß nun die Schleifer wieder lustig sein werden. Diese humorvolle Auffassung ihres täglichen Elends hilft schließlich doch nicht über das Elend selbst hinweg, das wir in den folgenden Kapiteln kennen lernen werden.

Das Isergebirge hat etwa 4000 Schleifer, die sich auf vier Industriezweige verteilen. Und zwar: Kristallschleiferei, Flakonschleiferei, Servietten- und Turmringschleiferei und endlich Schwarzglas und Pantasieartikel. In den ersten beiden Zweigen sind etwa 1800, in der Serviettenringbranche 1400 und der Rest ist bei der Schwarzglasindustrie tätig. Nach einer von der Union der keramischen Arbeiter Österreichs gesammelten Statistik aus dem Jahre 1898 verteilte sich diese Arbeiterzahl auf folgende Orte: Harrachsdorf-Neuwelt, außer den in den Glashütten tätigen Hohlschleifern, 36 männliche und 33 weibliche Glasschleifer, Kristallerie; Grünthal 80 m. und 50 w., Kristallerie; Wurzelsdorf 29 m. und 17 w., Kristallerie, und 18 m., Flakon; Polaun 83 m. und 80 w., Kristallerie: Dessendorf 200 m. und 100 w., Serviettenringe, Schwarzglas- und Phantasieartikel; Antoniewald 29 m. und 23 w., Kristallerie; Untermardorf 100 m. und 38 w., alle Branchen mit Ausnahme von

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Schwarzglas; Josefsthal 407 m. und 83 w. Und 25 Lehrlinge, Flakons, Vasen und Streuer; Karlsberg 61 m., 4 w. Und 14 L., Flakon; Johannesberg-Friedrichswald wechselnd 400 bis 500 Arbeiter, etwa 2/3 Männer, Serviettenringe; Gablonz, Klaar’sche Fabrik, 132 m. und 55 w., Serviettenringe; Wiesenthal 70 m. und 40 w., alle Branchen mit Ausnahme Flakon; Morchenstern, Kristallerie: 112 m. und 98 w.; Schwarzarbeit: 233 m.; abwechselnd Kristall- und Schwarzarbeit:76 m.; Georgenthal 46 m. und 29 w., Serviettenringe; Tannwald 37 m., Kristall- und Schwarzglas. Außer diesen Schleifern, die eine Summe von 2164 männlichen, 900 weiblichen und 39 jugendlichen Arbeitern, zusammen also von 3112 Arbeitskräften repräsentieren, sind noch mehrere Hundert Schleifer zu zählen, die im Sommer Feldarbeit verrichten. Die Statistik stammt aus den Sommermonaten, darum die niedrigere Ziffer. Details dieser Zusammenstellung werden wir noch bei den nun folgenden speziellen Besprechungen der einzelnen Zweige berücksichtigen.

Die Kristallschleiferei

Was sind Kristallartikel? Die Antwort ist in dem Begriff gegeben: Es sind alle möglichen Bedarfs- und Luxusgegenstände aus englischem Kristallglas. Sie stoßen uns allerorts auf, wir freuen uns and ihrer Schönheit, wir fragen aber nicht, wie bei so vielen anderen Dingen, die uns täglich umgeben, nach dem Woher. Der kleine Junge dort beim Fenster hält an eines seiner Augen einen länglichen Glasgegenstand, wasserhell, dreieckförmig, mit glänzenden Flächen. Er blinzelt durch das Glas ins Sonnenlicht., das von der gegenüberliegenden Hauswand reflektiert. Er dreht und dreht das Glasstück in seiner Hand und freut sich immer von Neuem des Zaubers, der vor seinem Auge ersteht. Alle Kanten, die er durch sein Glas sieht, sind übergossen von den Regenbogenfarben. Gelb, rot, blau, grün ist die Dachrinne drüben, sind die Gesimse der Fenster, der First und die Kamine, und blickt er ein Stück grüner Natur, so ist jedes Blättchen von feurigen Farben umsäumt. All diesen Zauber haben die braven Kristallschleifer des Isergebirges hervorgebracht, denn durch ihre Hände mußte das Stück von dem Lusterbehang gehen, an ihre Steinplatten mußte das Glasstück erst gedrückt werden, ehe es die Strahlen des Sonnenlichts brechen und dadurch den Zauber hervorbringen konnte, an dem sich Dein Junge nun freut. Aber nicht nur das zauberische Funkeln der Glasluster schaffen die Kristallschleifer – halte Umschau in Deinem Heim, und

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Du wirst noch manchen Gegenstand finder, der in den rauchigen Druckhütten geboren und in den Glasstaub erfüllten Schleifmühlen an der Desse oder Kamitz veredelt wurde: das Salzfaß, der Glasstöpfel auf Deiner Weinflasche, der gläserne Salatlöffel, der Briefbeschwerer in Form eines Glaswürfels, Dein Tintenfaß, der gläserne Türknauf and der Pendeltür eines Restaurants, die gläserne Tuschschale des Realschülers, alles dies, sowie noch eine Anzahl von Luxusgegenständen, wie Messerleger, Kerzenschalen, Papiermesser, danken wir der Arbeit des Kristallschleifers. Bevor wir uns diese selbst ansehen, wollen wir ein wenig zurückblicken.

Zu Anfang der Achtzigerjahre war in der gesammten Glasindustrie des Isergebirges ein riesiger Aufschwung. Die Kristall-, Schwarzglas- und Perlenindustrie hatte sich auf eine bedeutende Höhe geschwungen, es war großer Bedarf vorhanden, und der Arbeiter konnte auch einen Groschen Geld verdienen. Die Folge davon war ein ungeahntes Zuströmen von Arbeitskräften, das von den Exporteuren in ihrer blinden Profitsucht noch begünstigt wurde. Der Schuster legte Ahle und Riemen weg, der Schneider die Nadel, der Bäcker verließ den Trog, und der Müller ging von der Korn- in die Schleifmühle, die Straßenarbeiter liesen die Straße sein, und der Steinarbeiter vertauschte seinen Sitz in luftiger Bergeshöhe mit dem Schmalsitz am Schleifstuhl. Wie ein Heuschreckenschwarm in fruchtbares Ackerland, so fiel der Proletarierschwarm des Bebirges auf die Glasindustrie her. Wer nicht selbst kam, der wurde gerufen und durch glänzende Versprechungen herangezogen. Jeder Unternehmer wollte die günstige Periode ausnützen, so gut es eben ging. Jeder wollte reich werden, Jeder wollte den größten Anteil an dem Aufschwung haben. Bestellung jagde Bestellung – bis es allmälig anders wurde. Das Heranziehen von ungeschulten Arbeitskräften, die überlange Arbeitszeit, die Massenproduktion blieben nicht ohne Wirkung auf die Industrie. Eines Tages begannen die Exporteure, Perzente vom Lohn herabzudrücken – der verminderte Bedarf sollte durch billigere Preise wettgemacht werden. Bei der Lohndrückerei allein blieb es nicht. Die Produktion wurde vereinfacht – für die Luxusartikel wurde die Holzpolitur durch Feuerpolitur ersetzt, in der Perlenbranche wurde die Form gefunden – Beides nicht ohne üble Folgen für die Qualität. Von da ab ging der Artikel bis zu Ende der Achtigerjahre stets zurück. Immer länger wurde die Arbeitszeit, immer größer die Reservearmee, ihr Hunger und der Hunger der Arbeitenden. 1889 wurden von Ärzten Fälle von Hungerthyphus konstatiert. Damals wurde tatsächlich in Werkstätten, ja selbst im Fabriksbetrieb 15 bis 16 Stunden gearbeitet. In diesen Tagen veröfffentlichte Franz Grunmann im „Freigeist“ einen Artikel, in

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dem er die Lage der Schleifer wahrheitsgetreu schilderte. Dies gab mit den Anstoß, daß sich die Arbeiterschaft endlich zusammentat, um sich selbst zu befreien. Die wenigen Intelligenteren hatten wohl die Lage erkannt und waren bestrebt, geeignete Mittel zu finden, um die Arbeiterschaft von diesem qualvollen Dasein zu befreien – aber es kam anders als sie gewollt. Jede Organisation fehlte... Da kam es eines Tages zu einer wilden Arbeitseinstellung. Die Werkstättenarbeiter stiegen auf die Straße. Sie zogen von Schleiferei zu Schleiferei. Binnen zwei Tagen ruhte überall die Arbeit, und die hageren, entkräfteten Sklaven demonstrierten auf der Straße. Das war im Winter 1889/90. Jetzt erst erinnerten sich auch die Behörden ihrer Pflicht. Sie wurden plötzlich sozialpolitisch. Gewerbeinspektor Maler von Reichenberg brachte eine Enquête zu Stande, auf der Minimallöhne festgesetzt wurden. Diese bezogen sich hauptsächlich auf Luxusartikel, Tinten- und Salzfässer und auf einige Abzweigungen dieser Artikel.

Alles kehrte wieder zur Arbeit zurück. Aber schon in den ersten Tagen gab es Kristallschleifer, die glaubten, doch unter den Minimalpreisen arbeiten zu müssen. Die Furcht, wieder ihre Arbeit zu verlieren, bestimmte sie, den Drohungen der Arbeitgeber zu weichen. In wenigen Wochen waren die Minimallöhne überall durchbrochen. Zu gleicher Zeit drangen in die Schleifmühlen die Wiesenthaler Nachrichten. Dort hatte der brotlose Haufe der Perlensprenger, der vom Tschechischen herübergezogen war, eben seine Hauptschlacht geschlagen. Bei Breit in Wiesenthal wurden die Sprengmaschinen zuerstört und das fertige Produkt auf die Straße geschüttet. Der Schleifer bemächtigte sich drohende Erbitterung. Im Jänner 1890 gingen sie abermals aus den Schleifmühlen heraus. Diesmal nicht mehr so gemütlich. Sie rotteten sich zusammen und zogen von Ort zu Ort, überall Arbeitseinstellungen erzwingend. Die Bewegung ging von Dessendorf aus. Männer und Weiber, Schwächlinge und Kranke... Alles war von der Bewegung ergriffen worden. Sie stiegen auf den Dessendorfer Berg, bewaffneten sich mit Knütteln, die sie von einem Holzschlag nahmen, und nun – wollte sie die Welt ändern. Alles zusammenschlagen! war die Parole. Tatsächlich wurden auch die Schleifereien durchstöbert, und wo man fertige Ware fand, da wurde sie zerschlagen und vernichtet. Dadurch glaubten sie sich dem Elend zu entreißen. Dieses blieb zunächst. Ja es wurde da und dort noch vergrößert, denn manch ein Ernährer seiner Familie war von der Gendarmerie ausgehoben und dann abgeurteilt worden.

Aber eine gute Folge hatte die Sache doch gehabt. Wenigstens die Lokalbehörden sahen jetzt den Ernst der Lage voll ein, und sie schickten sich an, Besserung zu bringen. Das Mittel freilich, das sie dazu

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wählten, erwies sich bald als unzulänglich. Alles Heil erhofften sie von einer Genossenschaft der Kristallglasraffineure. Mit Hilfe des Bezirkshauptmannes von Gablonz, Stadler v. Wolfersgrün, gelang es, einen großen Teil der Lieferanten und Erzeuger im Frühjahr 1890 in dieser Genossenschaft zu vereinigen. Ja, man ging sogar so weit, die vereinbarten Minimallöhne durch das Genossenschaftsstatut zu schützen, dem der Bezirkshauptmann dadurch gesetzliche Kraft gab, daß er sich auf den § 133 der Gewerbeordnung stützte. Es wurden Ordnungsstrafen in Aussicht gestellt, denen der Bezirkshauptmann durch Berufung auf die oben zitierte Gesetzesstelle Nachdruck geben wollte. So erlie? Er an die Bürgermeister und Gemeindevorsteher folgenden Erlaß:

An die Herren Bürgermeister und Gemeindevorsteher!

Es wurde h.a. die Wahrnehmung gemacht, daß die im Frühjahre vereinbarten Minimallöhne und Minimalpreise bei der Erzeugung der Glaswaren von Einzelnen nicht eingehalten werden.

Es bedarf wohl keines Hinweises auf die großen Nachteile, die das, wenn auch nur vereinzelte Durchbrechen geschlossener Vereinbarungen mit sich bringt. Mit Rücksicht auf die Wichtigkeit der Sache und gegenüber dem rücksichtslosen, egoistischen Vorgehen Einzelner ist es Pflicht aller Gutgesinnten, vor allem aber zur Wahrung der öffentlichen Interessen berufenen Gemeindeämter, sie die Eruierung jener personen, welche die im Interesse der Glasindustrie getroffenen Vereinbarungen ignorieren, angelegen sie zu lassen und dieselben hier zur Anzeige zu bringen.

Ich fordere gleichzeitig die Herren Bürgermeister und Gemeindevorsteher auf, durch eine allgemeine Verlautbarung die Einhaltung der Löhne einzuschärfen und hervorzuheben, daß gegen die Darwiderhandelnden nach Maßgabe der Bestimmungn des § 133 der Gewerbeordnung, beziehungsweise der betreffenden Genossenschaftsstatuten wird vorgegangen werden.

K.k. Bezirkshauptmannschaft Gablonz, 8. Oktober 1890.

v. Stadler.

Dies erwies sich als wenig wirksames Mittel, dessen Kraft die Profitgier der Unternehmer bald gebrochen hatte. Einem Grünthaler Unternehmer blieb das Verdienst, der schäbigste zu sein. Die Arbeiter gaben sich in der Angst um das Stück Brot mit geringeren Lohnsätzen zufrieden. Die mühsam erkämpften Löhne waren zum zweitenmal durchbrochen. Die Bezirkshauptmannschaft schritt ein und belegte einzelne Unternehmer mit Geldstrafen. Sie glaubte dazu das Recht zu haben – aber die bestraften Profithyänen belehrten sie eines Besseren. Sie rekurrierten an die Statthalterei, und diese entschied zu ihren Gunsten. Die Löhne bestünden auf freier Vereinbarung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, und Niemand habe das Recht, eine derartige Vereinbarung zu beeinträchtigen oder gar eventuell zu bestrafen. Die Freiheit der Ausbeutung wer wieder einmal dekretiert. Die Industrie und damit die Existenz der Arbeiter war wieder voll und ganz der Willkür blinder Unternehmer

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ausgeliefert. Diese ließen nun alle Künste spielen. Künstliche Krisen – Arbeitsmangel – Massenentlassung der Arbeiter – unverschämte Lohndrückerei – das war der Weg, den das Unternehmertum einschlug, um die Arbeiterschaft wieder einmal durch Aushungerung gefügig zu machen.

Noch eine zweite Gefahr drohte der Industrie. Das billigere Schmirgeln und Feuerpolieren trat auf Kosten der Schönheit der Ware immer mehr an Stelle des Schleifens und der Holzpolitur. Die Genossenschaft erblickte hierin den herannahenden Ruin der Industrie und suchte auch hier Schranken zu errichten. Der damalige Schriftführer der Genossenschaft, Herr Emanuel Hrabik aus Tiefenbach, verfaßte eine Denkschrift, worin in treffender Weise dargelegt war, welch schreckliche Folgen das Schmirgeln und die Feuerpolitur für diese Industrie haben müsse – aber wieder wußte man es am grünen Tisch besser. Die Reichenberger Handels- und Gewerbekammer, der diese Denkschrift vorgelegt wurde, erklärte das Schmirgel und Feuerpolieren als technischen Fortschritt.

Sehen wir genauer zu. Ein technischer Fortschritt kann nur dann in einer neuen Methode erblickt werden, wenn sich absolut sicher stellen läßt, daß die Artikel bei gleicher Arbeitsleistung und gleicher oder besserer Qualität in größerer Menge hergestellt werden können oder umgekehrt, daß bei gleicher Menge die Güte der Ware gewinnt. Diese Bedingungen trafen nun nicht überall zu. Die Anwendunge der Feuerpolitur und des Schmirgelns in der Lusterindustrie hatte iene entschiedene Verschlechterung der Qualität zur Folge, so daß schließlich die Nachfrage ausblieb. Namentlich beim Lusterprisma, das bis zur Größe von 6 Zoll im Feuer poliert wurde, traten alle Übelstände dieses technischen Fortschritts zu Tage. Ihre äußere Form wurde entstellt, das Feuer rundete die scharfen Kanten ab, die dem Prisma den netten Anblick geben und die die Stahlenbrechung und damit das Farbenspiel begünstigen, und überdies gab das Feuer den größeren Flächen einen übernatürlichen, oft widerlichen Glanz. Die Feuerpolitur bedeutete wohl bei der Flakonindustrie technischen Fortschritt, weil man hier den Produktionsprozeß ungemein beschleunigen konnte., ohne daß die Ware wesentlich darunter litt – aber niemals bei der Lusterbranche. Manche Flakons, namentlich solche micht feinen Schnitten und mit Hohlschliff, gigen sogar schöner aus dem Feuer – als aus der Holzpolitur hervor.

Die Prager Statthalterei und die Reichenberger Handelskammer hatten gesprochen – und die Profitjäger handelten. Durch Lohndruck und Verschlechterung der Qualität wurden die Kosten der wilden Konkurrenz bestritten, die nun entbrannt. Noch im

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selben Jahre waren die Errungenschaften von 1890 dahin. Es war aber gut so, denn nun erwachte in den Arbeitern der Klasseninstinkt. „Wir müssen uns selber helfen durch Organisation!“ Am 2. Oktober 1890 noch erschien in Gablonz die erste, und zwar gleich konfiszierte Nummer des „Glasarbeiter“, auf dessen Kopf das Motto stand: „Das Glas verhalf der Wissenschaft zum Siege; die Wissenschaft wird dafür die Sklaven des Glases befreien.“ „Der Glasarbeiter“, als dessen Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Robert Preußler zeichnete, erschien zweimal monatlich. Er ging sogleich scharf ins Zeug, schilderte die Verhältnisse, belehrte die Arbeiter, klärte sie über ihre Rechte und Pflichten auf und war ihr bester Freund und Vorkämpfer. Mit der Nummer 16 vom 21. Mai 1891 stellte er sein Erscheinen ein. Zentralorgan war von nun ab die „Solidarität“, die zunächst in Reichenberg, dann in Gablonz und schließlich in Wien erschien und heute noch erscheint.

Mit der Gründung des „Glasarbeiters“ war der Anfang zur gewerkschaftlichen Organisation der Glasarbeiter gemacht. Noch 1891 gründeten sie den „Fachverband der Glasarbeiter“. Die Arbeiter glaubten damit vollkommen gerüstet zu sein und nun den Kampf gegen die sinnlosen Schädiger der Industrie aufnehmen zu können. Es erwies sich jedoch sehr bald, daß der im Verhältnis zur Gesammtzahl der Arbeiter verschwindend kleine Teil Organisierter nicht im Stande war, die Existenz der Arbeiter, sowie auch die gesammte Industrie vor dem herannahenden Ruin zu bewahren. Was mit vieler Mühe und mit vielen Opfern von den wenigen organisierten Arbeitern aufgebaut wurde, das wurde von der Unwissenheit der großen Masse der Arbeiter und von der Profitgier der Unternehmer, die sich diese Unwissenheit zunutze machte, wieder zerstört.

Die nächsten Jahre brachten ein Kräftespiel zwischen diesen beiden Faktoren. Auf der einen Seite standen die wenigen organisierten Arbeiter, die stets die Preise in die Höhe bringen wollten und tatsächlich auch hier und dort in die Höhe brachten, auf der anderen Seite die Zerstörer der Industrie, die kein Mittel unversucht ließen, die kaum errungene Besserung wieder zunichte zu machen. So ging es fort bis zum Jahre 1897. Im Spätherbst hatten sich die Verhältnisse der Glasarbeiter in allen Branchen, folglich auch in der Kristallerie, derart verschlimmert, daß die Arbeiter vor dem herannahenden Winter fast verzweifelten. In einigen Orten war wohl hinlänglich Arbeit; die Löhne waren aber so klein, daß es dem Arbeiter auch bei der längsten Arbeitszeit nicht möglich war, auch nur die bescheidenste Existenz zu finden. In anderen Orten wieder, wo die Löhne noch etwas besser waren,

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trat Arbeitsmagel ein. In mehreren Orten hatten die Arbeiter in Form von Dreherlohn oder Örtelpacht, sowie in den sogenannten Perzentsätzen auf Regie so hohe Abzahlungen zu leisten, daß sie sie kaum mehr tragen konnten. Wofür sie diese Zahlungen leisten, das konnten sie niemals erfahren.

Als nun der Winter 1897/98 vor der Türe stand, fragten sich Alle, die es ehrlich mit der Arbeiterschaft meinten und die Einblick in das Elend hatten, ob dieser Winter nicht wieder Ausbrüche der Verzweiflung bringen werde. Sie dachten and den „Knöttelvers“:

  Wenn die Schleifer wölde war’n,
Wollen se All`s zerreißen,
Wenn se wieder zohme sein,
Lossen se of sich –

Die Schleifer blieben „zohme“. In stumpfen Hinbrüten trug die Arbeiterschaft den ganzen Winter hindurch ihr hartes Los. Keiner der Arbeiter hatte den Mut, sein Elend und das seiner Brüder, das Elend der Weiber und Kinder vor der Öffentlichkeit aufzuzueigen. Alles war wie zu Eis erstarrt. Als aber die Frühlingssonne die Natur zu neuem Leben wachküßte und von dem bösen Winterbann befreite, da löste sich auch der Bann, der auf den Seelen der Glassklaven gelastet, und sie schritten zu neuer Tat. Zunächst freilich waren es wieder nur die wenigen Organisierten. Sie beriefen Versammlungen aller Branchen ein, in denen über die Lage der einzelnen Kategorien gesprochen werden sollte.

Sie hatten einen Massenbesuch erwartet und waren bitter enttäuscht, als dies nicht eintraf. Nur Wenige kamen. Die Masse zweifelte, daß ein Mittel gefunden werden könnte, sich noch einmal aufzuraffen. Das Elend hatte die Glasarbeiter schon so abgestumpft, daß sie tatsächlich glaubten, ihr Untergang sei schon besiegelt. Die Wenigen, die gekommen waren, konnten nicht daran denken, etwas Ersprießliches zu leisten. Ohne die Elendsarmee hinter sich, konnten sie nichts machen. Selbst Unternehmer, die an solchen Versammlungen teilnahmen, erklärten, daß die Arbeiterschaft schon sehr tief gesunken sein müsse, nachdem sie nicht einmal mehr für ihr eigenes Fortkommen Interesse zeige. Aber die organisierten Arbeiter ließen nicht locker. Sie gönnten sich nicht die Ruhe, noch Kraft, um tatsächlich die Arbeiterschaft des Isergebirges zu einer Aktion zusammenzubringen. Sie pflogen Erhebungen über die Löhne und Arbeitsverhältnisse, sowei über die Wirkungen des Niederganges der Industrie auf die Familie. In haarsträubenden Zahlen wurde das Elend unter den Glasarbeitern niebergeschrieben, und es wurden Bilder entrollt, die so grausam waren, daß selbst die gegen die Leiden der Arbeiterschaft abgestumpfte und unempfängliche bürgerliche Presse nun von dem Elend Notiz nahm. Schon vorher

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berichteten die Blätter über die Abstrafung mehrere Glasschleifer, weil sie Hunde gestohlen und geschlachtet hatten. Nun wiesen die organisierten Arbeiter unter Anderem noch nach, daß eine Perlenarbeiterfamilie, in der Mann und Frau 15 bis 16 Stunden täglich unermüdlich arbeiteten, ihre Existenz nur dadurch fristen konnte, daß sie die Kinder betteln schickte. Auch die Behörde durfte nun nicht länger zusehen. Sie durfte nicht zugeben, daß sie allein die organisierten Arbeiter für die Aufdeckung dieser Übel sorgen läßt. Es wurden behördliche Erhebungen angeordnet, wobei sich unter Anderm herausstellte, daß Hunderte von schulpflichtigen Kindern in der Perlenbranche mitarbeiten mußten. Die österreichische amtliche Sozialpolitik machte es freilich den Behörden zur ersten Pflich, das vorhandene Elden abzuleugnen, doch die Tatsachen sprachen stärker. Es war unmöglich, dieses namenlose Elend länger zu verdecken. In alle Welt gingen Zeitungsberichte hinaus, und sie gaben kund, unter welch erbärmlichen Verhältnissen die Arbeiter der einst so blühenden Glasindustrie leben mußten.

Nun waren auch die Glasarbeiter reif zu der Aktion. Die organisierten Arbeiter beriefen am 5. Juni 1898 die denkwürdigste Massenversammlung im Tannwalder Kolosseum ein. Diese Veranstaltung machte eines so gewaltigen Eindruck, daß die Organisation dadurch in die Lage versetzt war, die öffentliche Meinung voll und ganz zu gewinnen.

In dieser Versammlung, zu der sämmtliche Abgeordnete des Wahlkreises, sowie die Vertreter der Behörden und viele Unternehmer erschienen waren, strömten Tausende von Arbeitern herbei, um vor der Öffentlichkeit zu demonstrieren, daß es unter solchen Verhältnissen nicht mehr möglich sei, ruhig in den Hütten zu bleiben, um dort elend zugrunde zu gehen. Der Charakter dieser Versammlung war ein so ernster, daß man sich von allen Seiten gedrängt fühlte, Hand ans Werk zu legen, um diese Zustände zu beseitigen.

In der Perlenbranche gab diese Versammlung den ersten Anstoß zur Gründung der Produktivgenossenschaft – in der Kristallerie wurde eine Konvention abgeschlossen, die die Einhaltung der geforderten Minimallöhne und der von den Mitgliedern der Konvention aufgestellten Verkaufspreise zum Zwecke hatte. Die Konvention zählt 115 Mitglieder, nämlich 42 Exporteure und 73 Erzeuger. An der Herstellung der Lohnlistenartikel, also der regulären Ware, sind gegenwärtig 1142 Männer und 464 Frauen beschäftigt. Die Lohnerhöhung betrug durchschnittlich 30 bis 40 Perzent. Diese Minimalliste ist seit Juli 1898 in allgemeiner Geltung. Die Konvention wurde erst im November geschlossen.

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Sehen wir nun zu, wie es den Kristallglasbrüdern und den Kristallschleifern ergeht.

Bei „Lohndrückern“

Die Anführungszeichen im Titel verraten schon, daß wir nicht von Lohndrückern im gewöhnlichen Sinne sprechen wollen, nicht von Leuten, die den Lohn drücken, sonder wir wollen in einigen Druckhütten Einkehr halten und dort die freien Besitzer der Betriebsmittel, die für Lohn drücken, bei ihrer Arbeit aufsuchen. In Morchenstern treten wir in die erste Kristallglasdrückerei. Es ist eine ähnlich rauchgeschwärzte, von heißem Qualm erfüllte Hütte, wie wir näher der Sprachgrenze, südlich von Gablonz im „Demokratendörfl“, in Laubau und Pintschei, so vielen begegnet sind. Wir treffen den Lohndrücker an der Arbeit. Er sitzt beim Druckofen mit dem offenen Feuer, in dem er stets mehrere Kristallglasstangen zum Weichwerden liegen hat, und drückt mit der Hilfe einer Form aus der erwärmten Glasstange Lusterbehänge: „Wachteln“ und „Prismen“. Hat er ein Stück gedrückt, so läßt er es in eine Sandpfanne fallen, wo es langsam auskühlt und wieder verhärtet. Eine eintönige Arbeit, die sich hundertmale am Tage wiederholt. Der Drücker ist per 100 Stück gezahlt. Bei den gewöhnlichen Prismen erhält er je nach der Größe 20 bis 30 kr. für das Hundert, vier bis sechs Hundert kann er im Tag drücken. Sein Durchnittslohn beträgt 1 fl. 20 kr. im Tag. Das Glas muß er selbst kaufen, oft gibt es ihm aber auch der Exporteur, trotzdem er ja eigentlich Meister ist. Dies ist namentlich in Wiesenthal der Fall, wo auch Lieferanten als Zwischenhändler auftreten. Hier werden besonders Kristallscheibel gedrückt. Für fünflinige Scheibel, die dann zu Knöpfen weiter verarbeitet werden, bekommt der Lieferant 35 kr. per 100 Dutzend. Seine Rechnung stellt sich folgendermaßen:

  1 Kilo Glas 15 kr.  
  Kohle 5 bis 8 kr. 6 kr.  
  Scheren 8 kr.  
  Drücken 8 kr.  
   
 
    37 kr.  

Er hätte also nach seinen Angaben per 100 Dutzend ein Defizit von 2 kr. Als ich ihn darauf aufmerksam mache, sagt der Mann: „Die Verdienkreuzer müssen ‘rauskomm’n um’s Juhr.“ Er will damit sagen, daß es die Masse macht. In Wirklichkeit stellt sich auch die Materialrechnung ein wenig günstiger. Die Feuerung ist sehr gut gerechnet. Allerdings ist der schmal bemessenen

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Verdienst sehr variabel. Er wird mitbestimmt vom Glaspreis und von der Härte des Glases, von der der größere oder kleinere Kohlenverbrauch abhängt. Der Verdienst des Drückers bei diesem Artikel ist schlechter als bei den Lustersachen. Er kann im Tag kaum mehr als 12 bis 13 Hundert drücken. Sein Taglohn schwankt mithin zwischen 96 und 104 kr. Dies bei einer Tätigkeit, die um 5 Uhr Früh mit dem Anfeuern beginnt und um 8 Uhr Abends endet. Der Prismendrücker in Morchenstern bracht zwölf Stunden in der Hütte zu, von denen er acht Stunden drückte. Die mörderische Arbeit des Scherens, die auch hier zumeist Kinderarbeit ist, haben wir schon auf unserer Wanderung durch das tschechische Lampenarbeitergebiet kennen gelernt. Sie ist hier ungleich besser gezahlt, und dennoch ist mit dem Scheren – Scheibe um Scheibe muß am Rand mit einer Schere beschnitten werden – selbst bei dem „hohen“ Lohn von 8 bis 10 kr. für 100 Dutzend nicht mehr als höchstens 16 bis 20 kr. im Tag zu verdienen. Mehr als zwei Hunderter, das sind 2400 Stück, bringen auch geübte Scheerer nicht fertig. Im Tschechischen haben wir einen Schererlohn von zwei Kreuzern für ein Hundert Dutzend gefunden.

Außer den Lustersachen, Scheibeln, Uhrkettensteinen werden in den Druckhütten nur noch einige Spezialartikel gedrückt, wie Bierglasdeckel, Schnallen etc. Alles Übrige: Tinten- und Salzfässer, Messer, Löffel, Briefbeschwerer, Würfel, Lineale etc., etc., wird schon in der Glashütte gedrückt und kommt von dort direkt in die Schleifereien. Spezialartikel sind natürlich besser gezahlt, schon deshalb, weil für sie nur ein beschränkter Kreis von hierzu qualifizierten Arbeitern herangezogen werden kann.

Bei den Kristallschleifern.

Allen den soeben aufgezählten Artikeln und noch einer ganzen Reihe anderer, wie Thermometherständern, Rollwannen zum Geldzählen, Schraubenstöpfeln, Messerhaltern, Notizblocks, Schönheitsgläsern mit Regenbogenspiegelung, allerlei Nippsachen, Rokokofigürchen, Tierstücken, Irisbirnen, Glasbüsten berühmter Männer, Federschalen und noch manchem anderen Artikel begegnen wir in den Dessendorfer Kristallschleifereien. Vielen in allen möglichen Formen, jede Form in verschiedenen Größen und Alles wieder in verschiedenen zarten durchscheinenden Farben. Namentlich gilt dies von den Massenartikeln: Tinten- und Salzfässer, Messerleger und Lusterartikel. Man wird zunächst durch die Reichhaltigkeit der Artikel ganz verwirrt und gewinnt erst allmälig einen Blick für das Übrige.

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Da ist zunächst das Schleifen in seinen verschiedenen Stadien; Schärfen, Schneiden, Polieren, Ecken- und Walzenschliff, Hohlschliff, Kreuzschliff, dann sind die Menschen, die alle diese Kunst fertig bringen: Männer und Frauen, Kinder darunter, die meist überfüllten Werkstätten; ein beängstigendes Gewirre von Transmissionsriemen saust durch den Schleifraum; die sonstigen Gefahren: der Glasstaub, die Ausdünstung, todbringende Atmosphären, krankheitsbringende Temperaturen; dann die Radstühle, an denen die Jammermenschen sitzen, verschiedene Systeme, verschiedenen Zwecken dienend, in ihren einzelnen Teilen verschiedenen Besitzern eigen, die Lohnverrechnung der Meister und Gehilfen, der freien Arbeiter: Örtlpacht und Dreherlohn. Man möchte mit 100 Zungen zugleich fragen, mit 100 Köpfen zugleich denken, mit 100 Händen zugleich notieren und mit 100 Augen zugleich sehen. Ich werde mich bemühen, im Folgenden ein Bild von der Arbeit der Kristallschleifer zu geben, das aber mit Rücksicht auf den Raum kein vollständiges werden kann. Ich kann hier nur Konturen zeichnen.

Wie es in einem Schleifsaal aussieht? Holzkasten steht an Holzkasten, und zu jedem läuft durch eine Bodenspalte der Antriebsriemen der Transmission. An den Wänden hängen aufgereiht auf langen Nägeln die Scheiben, und in manch einer Schleiferei traf ich auch ein in den Käfig gesperrtes Vöglein, das der goldenen Waldesfreiheit beraubt war. Die Schleifer nehmen es mit in ihre stauberfüllten Kerker, ohne zu denken, wie schwer ihnen selbst der Kerker wird. An den meisten Kasten sitzen zwei Menschen, an wenigen nur einer, Männer und Frauen in bunter Folge, die wechselnd das Innere des Kastens, in dem sich an einer senkrechten Spindel eine Scheibe aus Eisen, Stein oder Pappelholz laufend dreht. An diese drücken sie einen Augenblick, oft auch länger die kleinen Glasgegenstände, die sie in Händen haben. Sieht man in die Eingeweide des Kastens, so gewahrt man, daß längs des Innenrades über die Scheibe Bretterbrücken gelegt sind, auf die die Schleifer das unfertige Halbfabrikat legen. Das geschliffene Stück wird in ein Wasserschaff gelegt. Die Spindel, an der sich die Scheibe dreht, läuft in zwei Lagern, einem am Boden des Kastens und einem an dem Querbalken, der nahe dem oberen Rand in die Seitenwände des Kastens eingekeilt ist. Dies ist der „Galgen“. Über dem Kasten sind die Hilfsmittel angebracht. Wir sind bei Scheibenarbeitern, die drei getrennte Arbeitsgruppen repräsentieren: Schärfer, Schneider und Polierer. Der Schärfer, der das gedrückte Stück zuerst in die Hand bekommt, um auf einer

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Eisenscheibe von den Rändern die Brocke abzuschärfen, braucht hiezu auf dem Schleifkasten ein Faß mit seinem Wellsand und über diesem einen Topf, aus dem Wasser in den Sand tropft oder träufelt, so daß durch die Öffnung des Sandfalles nasser Sand auf die Eisenscheibe rinnt. Der Topf hängt an einem Draht, dessen anderes Ende an der Decke befestigt ist. Der Schneider, der die Ecken und Flächen glatt macht, bedient sich einer Steinscheibe, auf die aus einem Topf Wasser träufelt, und der dritte Arbeiter, der sodann das Stück in die Hand bekommt, der Polierer, hat die Aufgabe, die matten Flächen des Glasstückes zu glänzen. Er bedient sich dabei einer Scheibe aus Pappelholz, auf die er Triplel schmiert, der zuerst zerrieben und mit Wasser zu einem schmutziggrauen Brei vermengt wird. So arbeiten Schärfer, Schneider und Polierer Hand in Hand. Nur bei kleinen Stücken, Stöpfeln etc., fällt die Arbeit des Schärfers weg, da die kleinen Ecken den Sandschliff nicht vertragen. Der Lohn wird für das ganze Stück gezahlt. Sie verteilen den Lohngulden gewöhnlich in folgender Weise: dem Schärfer und Schneider je 35 kr., dem Polierer (meist Frauenarbeit) 20 kr. Zehn Kreuzer bekommt der „Meister“ für das Werkzeug.

Da sind wir auch schon mitten drin in dem ganz eigenartigen Ausbeutungstum, das sich das Unternehmertum zurechtgelegt hat. Der Meister? Wer ist das? Etwa ein Kleinmeister im Sinne der Kleingewerbetreibenden, oder vielleicht der Besitzer der Werkstätte oder eines Teiles dieser, oder ist hier das Wort Meister im Sinne von Vorarbeiter, Werkmeister gebraucht? Keines davon. In der Schleifmühle ist der Meister ein freier Arbeiter, der sein kleines Kapital zur Anschaffung von Werkzeug benützte und dann von dem eigentlichen Besitzer der Schleifmühle und der mechanischen Kraft den Platz in der Mühle und die Wasserkraft pachtete, die der Kapitalist gefangen genommen hat. Solcher Meister gibt es in manchen Werkstätten fünf bis sechs, und jeder nennt mehrere Stühle sein eigen. Hier sei eingeflochten, daß es auch Meister gibt, die dem Besitzer der Mühle keinen Pacht für den Raum zahlen. An den Stühlen arbeiten seine – Gehilfen. So sind wohl die Schärfer, Schneider und Polierer zu nennen? Weit gefehlt! Auch sie sind freie Arbeiter, und der Meister ist bestenfalls ihr Lieferant, ihr Arbeitsvermittler. Es gibt auch Arbeiter, die von dem Meister und Lieferanten A das Werkzeug pachten und mit Hilfe dieser Produktionsmittel die Aufträge ausführen, die ihnen der Lieferant B gibt. Sie sind völlig unabhängig vom Meister, bei dem sie arbeiten, sie sind einfach Pächter seiner Betriebsmittel. Sie zahlen den Örtlpacht, und der Meister muß ihnen dafür das Örtl in Stand halten: die Scheiben abdrehen, die kleinen Riemen

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flicken und, wenn er zugleich Lieferant ist, auch die Ware verpacken. Wir sehen also: Beide, Meister und Gehilfe, sind freie Arbeiter und Pächter, die Meister pachten den Arbeitsraum und Kraft, die Gehilfen haben Beides in Unterpacht und außerdam das sonstige Betriebsmittel, den Radstuhl sammt Zubehör, der je nach dem Artikel, der darauf bearbeitet werden soll, 50 bis 80 fl. kostet. Über diesen beiden Kategorien von freien Arbeitern steht als Generalausbeuter der Besitzer der Schleifmühle, der selbst nichts arbeitet, sondern nur sein Kapital auf diese Weise angelegt hat. Auch hier gibt es noch eine Gruppe von unternehmenden Spekulanten. Pächter, die von den Mühlenbesitzern die ganzen Gebäude pachten und dann einzeln weiterverpachten. Der Besitzer oder erste Pächter hat in seinem Dienst einen Werkführer, der das ganze Werk im Gang halten muß. Er flickt die langen Riemen, setzt den Betrieb in Bewegung und besorgt die Reinigung der Transmission. In Betrieben mit zwei, drei Stühlen ist ein „Feuermann“ dafür verantwortlich. Der Letzte in der Kette, der besitzlose Schleifer, ist es, der dieses System von Pacht und doppeltem Unterpacht dann am ärgsten zu spüren bekommt. Der schwerste Druck lastet auf ihm und er kann ihn nicht abschütteln.

Jetzt wird es auch begreiflich sein, warum die Kristallschleifer, die immer Vorkämpfer der Arbeiterbewegung waren, schließlich doch auch der schweren Krise zu unterliegen drohten, die die Ausbeutungswut über die Industrie gebracht hatte. Wo sollten sie anpacken? Sollten sie gegen die Ausbeutung durch das Pachtsystem ankämpfen – oft, aber nicht immer, waren die Exporteure zugleich die Mühlenbesitzer – sollten sie um bessere Löhne kämpfen? Schwache, ausgemergelte, durch den Fluch ihrer Arbeit und den Mangel von Vorrichtungen zum Schutz ihrer Lunger kurzlebigen Menschen – sie sollten einen Kampf auf zwei Linien erfolgreich führen? Es schien fast unmöglich – dennoch haben die organisierten Arbeiter den Kampf auf beiden Linien aufgenommen und, wenn noch nicht gewonnen, so haben sie doch Positionen erobert, von denen sie nicht mehr so leicht verdrängt werden können.

Mühlenbesitzer, Mühlenpächter, Raum- und Kraftpächter und zum Schluß der Pächter des Radstuhls – dieses dreifache Pachtverhältnis machte die Ausbeutung in allen Graden möglich, und durch so viel Hintertürchen konnte die Unternehmerschlauheit aus- und eingehen, daß die Arbeiter wirklich gar nicht mehr ermessen konnten, wie, wobei, wodurch und in welchem Grade ihre Kraft ausgenützt wurde!

Es ist eine gar bewegliche Klage, die ein Schleifer in dem Gedicht „Das Prisma“ erhebt, eine Klage freilich, die ungehört verhallte und erst gehört wurde, bis sie zur Forderung