Zwischen Iser und Neisse (C)

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„nur einen halben Tag“, das sind nach ihrer Angabe zwölf Stunden. Sie haben großlochige Perlen aufzufädeln. Davon können sie in dieser Zeit 25 Bund, also 2500 Dutzend, fertigstellen. Das Tausend zu 4 œ kr. gerechnet, heimsen sie also für zwölfstündige Arbeit einen Lohn von 11 Œ kr. ein – sie bekommen also für die Stunde rastloser Tätigkeit nicht einmal einen Kreuzer.

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Der bethlehemitische Kindermord des Kapitalismus. Die in diesem Zweige der Lampenarbeit verwendeten Kinder sind ungezählt. Wo es Kinder gibt – und wo an solchen Elendstätten gäbe es nicht Kinder! – da werden sie von ihren Erzeugern rücksichtslos zu dieser Arbeit herangezogen. Das Lampenarbeiterkind hat kein Recht auf Jugend. Gleich dem Kinde des schlesischen Webers ist es ausgeschlossen von allen Freuden der Kinderzeit und selbst den unschuldigsten. Wie das Weberkind frühzeitig am Spulrad sitzen muß, so muß das Lampenarbeiterkind die Druckperlen anfädeln, die sein Vater erzeugt. Mag draußen die Sonne locken so viel sie will – das Lampenarbeiterkind lockt sie nicht heraus zu toller Luft. Es muß in der heißen, verpesteten Stube sitzen und anfädeln und anfädeln, bis es schlaftrunken zusammenknickt.

Daß die Kinder arbeiten müssen, ist eine so in das Gedankenleben dieser armen Menschen übergegangene Sache, daß mir ein Lampdendrücker, der kaum mehr genug Erdäpfel verdiente, auf die Frage: Warum er denn unter solchen Umständen überhaupt arbeite, die Antwort gab: „Wenn ich nicht arbeiten würde, hätten ja die Kinder nichts zu tun.“ Zu Huntirow traf ich so ein armes Kind, das Überarbeit und andauerndes Hungern so herabgebracht haben, daß es an dem sogenannten „Nachtschatten“ leidet. Das Kind verliert von Zeit zu Zeit seine Sehkraft. Da gibt es dann nur eine Medizin: gute, kräftige Nahrung. Woher nehmen und nicht stehlen! Aber nicht alle Lampenarbeiter lassen ihre Kinder anreihen. Sie schicken sie „batteln“. „Der Bettler hat ein viel besseres Leben als der Arbeiter“, sagte ein Lampenarbeiter zu mir. Er hat Recht. Bekommen die Kinder auf ihren Bettelgängen gleich nur Knödelwasser geschenkt, sind sie dennoch besser daran, als säßen sie daheim beim Anreihen. Mehr als Knödelwasser und Brot können sie daheim auch nicht verdienen. So sind also im Lampendrückerland jene Eltern noch die vernünftigeren, die ihre Kinder betteln schicken. Ein Staatsorganismus aber, der solchen grauenhaften Zuständen kein Ende machen kann, ist faul und schlecht – eine Gesellschaftsordnung, die solche Zustände nicht nur billigt, sondern schafft, ist

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eine unsittliche, eine barbarische, selbst dann, wenn einzelne Mitglieder dieser Gesellschaft sich der von ihren Eltern mißhandelten Kinder annehmen und Kinderschutz- und Rettungsgesellschaften gründen. In der Lampendrückergegend gibt es kein einziges Arbeiterkind, das nicht schon in zartester Jugend entsetzlichen Qualen ausgesetzt wäre, Qualen, die nicht durch die Schuld der Eltern heraufbeschworen wurden, sondern durch den menschen- und kindermordenden Kapitalismus. Hier ist das Zutodemartern der Kinder Massenerscheinung!

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Der Lotterieteufel hat, wie im Glasmacherland überhaupt, so namentlich in den tschechischen Lampendrückerdörfern, gar viele an der Rockfalte. Kaum eine Stube betrat ich, in der nicht neben etlichen Heiligenbildern an den Wänden irgendwo an der Wand, meist aber an der Türe, die Nummern angekreidet gewesen wären, die die betreffende Familie gerade gesetzt hatte. Im Gebirge ist die „blaue Lotterie“ weit verbreitet, und sie kann durch die Wachsamkeit des Staates kaum eingedämmt werden, eines Staates, der die Lotterie, natürlich wie jedes Glückspiel, dann unmoralisch findet, wenn nicht er der gewinneinheimsende Banquier ist. Das Wesen der „blauen Lotterie“ besteht darin, daß ein privater Geldmann an Stelle des Staates tritt, aber um konkurrenzfähig zu sein, auch kleinere Einsätze entgegennimmt. Bei der staatlichen Lotterie ist der geringste Einsatz 7 kr., bei der natürlich verbotenen Winkellotterie wird jeder Betrag angenommen, auch 1 kr. Der Privatunternehmer paßt sich eben den wirtschaftlichen Verhältnissen der Gegend an. Dieses Entgegenkommen bewirkt, daß er großen Zulauf hat. Wer aber nicht zum Winkellotteristen kommt, den sucht er selbst auf. Von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus wandert der Winkellotterist, und überall nimmt er die Einsätze und Nummern entgegen. Dann trägt er das Geld und Nummern zum „Banquier“, deren es mehrere im Lande gibt, und erwirbt sich durch Einräumung gewisser Perzente von diesem die Zahlungsgarantie, falls unter den entgegengenommenen Nummern Treffer sind. Als Ziehungsnummern gelten die der staatlichen Lotterie. Es gibt im Gebirge genug Existenzen, die von dieser „blauen Lotterie“ leben, genug aber auch, die durch sie vernichtet wurden.

2,10, 9. Das sind die Nummern, die ich in einer Lampendrückerstube an der Türe angekreidet finde. Darüber steht das Zeichen der heiligen drei Könige: K + M + B +. Ich lenke das Gespräch darauf. Die hagere Frau wirft einen leuchtenden Blick auf die Nummern: „Der Herrgott wird uns doch was zuschicken!“ Dann aber erinnert sie sich offenbar, wie oft sie schon vergebens gehofft hat, und sie setzt hinzu: „Er hat vielleicht auf die

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Lampendrücker ganz vergessen!“ Diese dumpfen Worte der Verzweiflung gaben nicht nur die ausgebliebenen Gewinnste der Frau ein. Sie haben in dem ganzen Elend ihre Quelle.

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Haushaltsrechnungen. Die Hausmutter in Lampendrückendorf muß eine gute Rechnerin sein, sonst könnte gar zu leicht an einem Tage aufgegessen sein, was für sieben reichen muß: Früh Zichorienkaffe, Mittags geriebene Erdäpfel oder Wassersuppe oder Sauersuppe, Abends wieder Zichorienkaffee; zu jeder Mahlzeit Brot und das alltägliche Menu ist fertig. In einem Hause treffen wir neun Personen: Drücker, Anreiherinnen und einen Schieferbrucharbeiter. Alle sind tätige Menschen. Ihr „Lieblingsessen“ muß Sauersuppe, das ist in Wasser gelöster Sauerteig, sein. Eine der Frauen rechnet mir vor: 1 Pfund Schwarzmehl kostet 4 kr., von einem Pfund bekommt sie sechs Portionen Suppe. Ein Teller Suppe sammt Erdäpfeln kostet sie Alles in Allem 4 kr. Dazu ein Stück Brot und der Mittagstisch ist gedeckt. Heute haben sie große Reinigungsarbeit. Es geht schon auf Mittag, und ich sehe kein Feuer im Herd. Ich frage, wann sie kochen werden. Da lacht das hochschwangere Weib vor mir auf und sagt: „Heute nichts. Wir haben keine Zeit.“ Das Lachen der Einen teilt sich bald Allen mit. Sie finden es so ungeheuer komisch, daß sich Einer um ihre Lebensverhältnisse kümmert. Lachend erzählen sie mir von ihrem übrigen Elend. Sie haben die Erdäpfel zum Setzen gekauft. „Davon,“ sagte die Älteste, „müssen wir ein paar stehlen und kochen.“ Dann reibt sie sich mit der flachen Hand den Bauch und endet: „Wir tun’s in den Bauch hineinsetzen.“ Dieser Witz ruft ungebundenste Heiterkeit hervor.

Ich wende mich der Schwangeren zu: „Diese Kost kann kaum genügen, Sie zu erhalten, wie erst können Sie das Kind im Mutterleibe ernähren? – „Das Kind kommt halt schwach zu Welt,“ sagt sie gleichgültig. „Mir sind schon zwei gestorben.“ – „In welchem Alter? frage ich. – „Das eine war drei Wochen, das andere elf Wochen alt. Ich bring’ kein Kind vorwärts.“ Auch die Erinnerung daran läßt sie gleichgültig. Im gleichgültigen Stumpfsinn nimmt sie diese Tatsache hin und als mein Dolmetsch hinzufügt, daß nur wenige Kinder das erst Jahr überleben, bestätigt sie diesen Erfahrungssatz mit lebhaftem Kopfnicken.

In anderen Behausungen habe ich nicht so viel Gleichgültigkeit getroffen. Da klagte eine Militäristenfrau über das miserable Leben, das sie führen müsse. Wenn sie nicht eigene Erdäpfeln hätte, wüßte sie nicht, wovon sie und ihr jetzt vaterloses Kind leben könnten. Die Ausgabe für die Milch kommt sie hart an, aber

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da hat die Not einen Ausweg geschaffen. „Wenn ich Geld habe, so kaufe ich Milch, wenn nicht, so trinken wir schwarzen Zichorienkaffee allein. Die Frau zahlt für ihre Stube und ein Stück Feld 40 fl. Jahreszins. Diese Ausgabe ist ihr die wichtigste, da verzichtet sie lieber für sich und ihr Kind auf den Nährzusatz im Zichorienkaffee. Es geht ohne Milch auch, weil es das Elend so will.

Die Wochenrechnung einer Hausmutter, die sieben Personen um 4 fl. in der Woche verköstigen muß, stellt sich im Sommer wie folgt:

  Gulden
1 Kilo Zucker -.40
2 Kilo Mehl -.36
7 Laib Brot, à 24 kr. 1.68
œ Kilo Salz -.07
1/8 Kilo Kaffee -.20
Speck und Talg (als Speisefett) -.20
œ Zentner Kohle -.42
Seife, Buttermilch, Zündhölzchen etc. -.20
 
Zusammen . .
3.53

Im Winter muß die Frau außerdem noch einen Liter Milch täglich kaufen. Das sind, der Liter zu 8 kr., 56 kr. in der Woche, so daß also sieben Personen eine Woche lang um 4 fl. 9 kr. verköstigt werden. Im Sommer verwendet die Hausfrau diesen Rest von 50 kr. zum Ankauf von Eiern, Gries, Erbsen, Reis, Fisolen etc. Das ist die beste Zeit der sieben Menschen, die zusammen für die Stillung des Magens trotz harter Arbeit nicht mehr als fl. 4 in der Woche aufbringen. Sonst essen sie Erdäpfel, Erdäpfel und wieder Erdäpfel, denn diese bauen sie selbst. Nach dieser Rechnung stellt sich also der Wert der Tagesmahlzeiten für eine Person auf acht Kreuzer. Damit soll die Kraft ersetzt werden, die bei 15- 18stündiger Arbeitszeit aufgebraucht wird. Fleisch kommt nur dreimal im Jahre auf den Tisch, zu den großen Feiertagen, und dann für sieben erwachsene Personen Ÿ Pfund Siedefleisch, das 21 kr. kostet.

Dieses Beispiel ist kein vereinzeltes. Wo immer man bei einem Lampendrücker einkehrt, dort findet man als Hauptmahlzeit die geriebenen Erdäpfel, eine klebrige, kleisterartige Suppe von widerlichem Geschmack.

*

Eine Drückerin. Stundenlohn: 11/5 Kreuzer. Zu Rabzi treffen wir als Beispiel schlimmster Ausbeutung ein 19 jähriges Mädchen und einen dem Hungertyphus kaum

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entronnenen jungen Menschen. Von diesem später! Das Mädchen ist schwach und muß alle halbe Stunden eine kleine Pause machen, um sich im Freien frische Luft zuzuführen. Sie drückt 15 Bund im Tag um den Preis von 5 œ kr. Aus 10 Kilo Glas bringt sie 120 Bund fertig. Ihre Rechnung für acht Arbeitstage von 16- bis 17stündiger Arbeitszeit stellt sich also, wie folgt:

Glas 2 fl. – kr.  
Öl (täglich 20 kr.) 1 fl. 60 kr.  
Wolle -. fl. 24 kr.  
Nadeln -. fl 05 kr.  
Anreihen (per 1000 D. 11 kr.) 1 fl. 21 kr.  
 
 
Diesen Auslagen steht ein
Preis von 5 œ kr. für den
Bund, für 120 Bund also
eine Summe von
6 fl. 60 kr. gegenüber.

Die Drückerin hat mithin für eine Arbeitszeit von gering gerechnet 16X8 Stunden, d. i. von 128 Stunden, einen reinen Lohn von 1 fl. 50 kr., das sind für die Arbeitsstunde 1.17 Kreuzer. Dabei ist sie noch besser daran als ihre Schwester, die für 16 Stunden Anreiharbeit 10 kr. bekommt, für die Stunde also 5/8 kr. Von 7 Uhr Früh bis 11 und 12 Uhr Nachts geht Tag für Tag die Arbeit fort, und die Nacht vor dem Liefertag, die Nacht auf Samstag, wird meist ganz durchgearbeitet. Alles um der paar Kreuzer willen, die kaum auf Erdäpfel und Zichorienkaffee reichen. So reiht sich Beispiel an Beispiel in meinem Notizbuch. Die Elendsdaten wachsen ins Ungeheure. Nirgends eröffnet sich dem Beobachter ein freundlicherer Blick.

*

Die elendeste Hütte traften wir in Rabzi am Ende des Ortes. Schon der äußere Anblick mußte auch dem nicht geübten Beobachter sagen, daß hier das Elend haust. Durch eine windschiefe Holztüre treten wir in einen offenen Vorgang, der aus verwitterten Brettern gefügt ist. Rechts neben dem Eingang ist der Abort. Ein etwas ausgerundetes Brett, hinter dem der Abgrund gähnt. Ein Fliegenschwarm summt von dem offenen Haufen von Exkrementen und Abfällen auf, der sich in dem Abgrund türmt. Die Senkgrube fehlt. Der Haufen liegt offen in dem Stück verwildertem Garten, der zum Haus gehört. Solche sanitäre Mißstände trifft man im „Biehm’schen“ auf Schritt und Tritt. Während im Gebirge Sauberkeit der hervorstechendste Zug fast aller Haushaltungen ist, hat hier das Elend der Bevölkerung in jeder Richtung

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die Schmutzigkeit befördert. Man hält es nicht für möglich, daß Menschen auf solcher Stufe leben können. Auf der Planke, die den Vorgang gegen den Garten zu abschließt, hängen schmutzige Wäsche und alte Kleidungsstücke, die Nachthüllen der Bewohner. Auf dem Boden liegt allerlei Unrat.

Zur Linken ist der Eingang in das Haus, aus dem uns das Gebläff eines kleinen Hundes entgegenschallt. Wir treten ein und befinden uns in einem Bodenraum. Das durchlochte Dach bildet die Decke dieses dunklen Vorraumes. Hinter einem Holzverschlag ist der kleine schwarze Hauswächter angebunden. Er erregt sich sehr über den ungewohnten Anblick der Fremden. Wer wollte auch sonst in einer solchen Hütte Einkehr halten? Außer dem Gerichtsboten hat schon lange kein Fremder das Haus betreten. Der „Hausherr“ ist herausgekommen und heißt uns weitergehen. Durch eine Holztüre zur Rechten gelangen wir in den eigentlichen Arbeits-, Wohn- und Schlafraum. Er ist kaum zwei Meter hoch. Ein mittelgroßer Mann braucht auf seinen Kopf nur eine Spanne aufzusetzen und er wird die Decke erreichen. Der Bretterboden ist morsch. Breite Fugen durchziehen ihn. Darunter liegt Mist, die Brutstätte der Hausinsekten. Gegen den niederen Herd zu ist der Boden bloßgelegt. Die Bretter sind abgefault und längst schon in den Ofen gewandert. Auf diesem steht eine kleine Rein mit Erdäpfeln und einiges anderes Geschirr. Vier Fenster, jedes eine Quadratelle groß, geben dem Raum Luft und Licht, das dadurch noch beeinträchtigt wird, daß einige Fenster anstatt der Glasscheiben mit Papier überklebt sind. Der Glasarbeiter, der keine Glasfenster hat, reiht sich so würdig dem Weber an, der kein Linnen sein eigen nennt, dem Schneider, der keine Kleider hat, dem Schuster, der barfuß geht, dem Bauarbeiter, der obdachlos ist.

Zu diesem Raume hausen drei Erwachsene und drei Kinder. Was für Kinder! Das eine schläft jetzt gerade im Bette, neben dem sein junger, grauhäutiger Vater seinen Radstuhl tritt. Er schleift 18eckige Oliven, längliche Glasperlen aus gelber Masse, 100 Dutzend um 40 kr. Will er im Sechzehnstundentag diese Arbeitslast zwingen, so muß er flink sein, und es bluten ihm die Finger. Alle Tage kann er es aber nicht. Es gibt auch Tage, an denen er nur 20 kr. verdient, trotzdem der den Tag von der Nacht bis wieder in die Nacht hinein ausdehnt. Mit dem linken Fuß tritt er den Hebel, der das Rad in Bewegung setzt. Den rechten Fuß hat er an der Kopfwand des Bettes angestemmt. Gerade über dem Kindeshaupt ist der schmierige nackte Fuß des Schleifers. Das Kind liegt nackt im Bett, nur leicht mit einer zerschlissenen Decke verhüllt. Es schläft trotz des Radschnurrens und des Gequietsches des Schleifsteins. Der arme Wurm entbehrt der

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Mutter. Diese muß in die Liebig’sche Fabrik nach Bredl gehen. Um Œ 6 Uhr Früh verläßt sie die Hütte, um 7 Uhr Abends kommt sie müde und abgerackert heim. Aber sie hat 54 kr. verdient und so die Fortführung einer Elendsexistenz ermöglicht, die sonst längst schon hätte zusammenbrechen müssen. Der Schleifer ist 27, die Mutter des Kindes 23 Jahre alt. Sie sind nicht verheiratet. Warum nicht? „Wir haben kein Geld übrig für die Trauung. Ich glaube, daß es auch so geht. Ich weiß, daß sie mir nicht davonläuft, und ich laufe ihr auch nicht davon.“ Das Elend hat sie zusammengeschmiedet, das Elend ist auch der Hüter des Bundes.

Zur Nachtzeit teilt das Bett der zweite männliche Arbeiter mit seinen beiden Schwestern. Die eine bekommen wir zu Gesicht. Sie ist etwa zehnjährig. Statt der Kleider hat sie Fetzen und Sackleinwand vorgebunden. Ihr dickes Gesicht hat einen verblödeten Ausdruck. Sie drückt sich scheu in eine Ecke. Die zweite, 14jährige, ist nicht da. Der Bruder, ein menschliches Gespenst, sitzt am Balkentisch. Er drück 1 œ linige Flüssel, für die er per Bund 5 Ÿ kr. bekommt. Seine Arbeitskraft ist geschwächt. Im Jahre 1898 packte ihn und seine Geliebte der Hungertyhpus. Er lag zehn Wochen darnieder und besiegte endlich die furchtbare Krankheit. Seine Geliebte starb im Gablonzer Spital. Kaum daß er wieder kriechen konnte, mußte er seinen Sinn auf den Erwerb richten. Er setzte sich wieder an den Lampentisch und drückt seither. Freilich nicht so flink. Bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 15 Stunden täglich ist er im Stande, in der Woche 5 Kilo Glas zu verarbeiten, das gibt 60 Bund, also eine Einnahme von... 3 fl. 45 kr. per Woche, hiervon gehen ab:

für Glas (5x21 kr.). 1 fl. 05 kr.  
für Öl (6x14 kr.). -.fl. 84 kr.  
für Nadeln und Wolle -.fl. 15 kr. 2 fl. 04 kr.
 
Es bleiben ihm also   1 fl. 41 kr.

per Woche für seine 90stündige Arbeit und für die 48stündige Arbeit seiner beiden Schwestern, die das Anreihen besorgen und deren jede täglich damit vier Stunden zubringt. Für 138stündige Arbeit 141 Kreuzer! Wie lange wird es dauern, und der Lampendrücker wird wieder dem Hungertyphus verfallen!

Unter Tags, wenn die „Hausfrau“, die Geliebte des Schleifers im Klampertal robotet, ist er der Koch. Kaffee – Sauersuppe und Erdäpfel – Kaffee: so lautet auch hier der tägliche Speisezettel für die drei Mahlzeiten.

Hauseigentümer war bis vor Kurzem der Schleifer. Nun darf er nur noch ein halbes Jahr in seiner Hütte hausen, dann muß

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er fort. Sie kam unter den Hammer. Einen Haussatz von 300 fl., den er bei der Friedländer Sparkasse aufgenommen, konnte er nicht zurückzahlen, nicht einmal die Zinsen brachte er auf. Hätte er den Haussatz nicht aufgenommen, so hätte er schon vor Jahren ziehen müssen, denn das Dach und die Bretterverkleidung an der Bretterwand waren schon so schlecht, daß das Haus selbst für diese armen Menschen nicht mehr bewohnbar war. Sie mußten geflickt werden, und dazu brauchte er die Anleihe. Die Erzählung dieser traurigen Geschichte läßt ihn ganz kalt. Er wird dann, wenn er von seinem Heim vertrieben ist, in die Heimat seiner Geliebten, nach Turnau wandern, wo er Kamesinarbeit zu finden hofft. Er scheidet ohne Weh von der Hütte, in der er seine Kindheit und seine Jungmannsjahre verbracht – sie bietet ihm mit jedem Stein, aus dem sie gefügt ist, mit jedem Brett und jedem Nagel nur böse Erinnerungen. Schlimmer wie hier kann es nimmer werden... Dieser Gedanke läßt ihn furchtlos in die Zukunft blicken.

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Das Mittagsmahl im Schieferbruch. Wer durch die tschechischen Dörfer wandert, wird gut tun, sich Mundvorrat mitzunehmen. In den armseligen schmutzigen Gasthäusern wird er selbst für schweres Geld kaum einen verdaulichen Bissen erhalten. Unter der Woche gibt es nicht einmal Bier. Einige Branntweinflaschen sind das Um und Auf des Vorrates, aber auch dessen was in tiefen Dorfwirtshäusern begehrt wird. So krochen wir denn, als die Mittagsstunde herankam, eine Bergstraße hinan, glitzernden, blitzenden Flächen entgegen, die das Sonnenlicht reflektierten. Einen Schieferbruch wollte ich sehen, und so verbanden wir das Nützliche mit dem Angenehmen. In der luftigen Hütte der Steinspalter hielten wir Mittagsrast und konnten zugleich Einblick in das Leben und Treiben dieser Arbeiter gewinnen. Nach der Windseite zu ist die fast an den Rand eines alten Abbaues gestellte Hütte durch eine Bretterwand geschützt. Zwei Seitenwände und ein schiefen Dach vervollständigen das Holzgefüge. Nach vorne ist die Hütte offen. Ein Alter und ein Vierziger haben hier ihre Arbeitsplätze. Sie sitzen mit dem Rücken an die Hinterwand gelehnt und handhaben Spalteisen und Hammer. Die Schieferblöcke, die sie aus dem kaum 50 Schritte entfernten Bruch gewinnen, werden hier zu Tafeln gespalten, eine Arbeit, die namentlich im Winter gut von statten geht. Je kälter es ist, desto leichter ist der Schiefer spaltbar, desto mörderischer ist dann allerdings auch die Arbeit. Hohe Schneewächten bauen sich rings um die Hütte auf. Schneit es tagsüber, so muß sich der Steinarbeiter erst den Heimweg schaufeln, und am Morgen muß er mit Schaufel und Besen täglich immer von Neuem von der Natur seinen Arbeitsplatz zurück

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erobern. Hat es über Nacht allzu stark geschneit, dann muß er oft auch den Kampf aufgeben. Ein Arbeitstag geht verloren. Jetzt im Maien ist es ein luftiges, herrliches Sein da oben in freier Luft, wenn auch die Arbeit nicht so munter vorwärts geht. Von außen dringt der Lärchensang in die Hütte, und sonnig liegt das kahle Gestein vor unserem Blicke. In der Hütte ist es angenehm kühl. Wir sitzen auf umgestülpten Schiebkarren, verzehren unsere Räucherwurst und das Butterbrot, der Alte löffelt seinen Liter Suppe aus, der zweite Arbeiter ißt um 3 kr. Schwarzbrot, und dazu gibt es die mir schon zur Gewohnheit gewordenen Unterhaltung über die Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Der Alte ist wohl der Steinbruchbesitzer, aber nicht mehr der Besitzer der vor der Hütte aufgeschichteten Schieferplatten. Noch ehe er sie aus dem Bruch gewonnen und in der Hütte behauen hat, waren sie schon an den Zwischenhändler verkauft, der auch hier ohne Risiko und ohne Arbeit ein auskömmlicheres Dasein findet als der Steinbruchbesitzer und sein Pächter. Für die drei Klaffen Schiefer zahlt er per Schock 30, 50 und 63 kr. Um 35, 60 und 80 kr. verkauft er den Schiefer an die Dachdecker weiter, denen er dadurch die direkte Bezugsquelle abschneidet, daß er das Produkt schon kauft, ehe es gewonnen ist. Zwei Winter und einen Sommer mußte der Steinbruchbesitzer umsonst arbeiten. Der Steinbruch war verschüttet und mußte erst abgedeckt werden. Aber den Bauer, der sonst nichts aus seinem unwirtlichen Stück Berggrund gewinnen konnte, verdroß die Arbeit nicht. Mit ihm arbeitete ein Pächter, der dem Eigentümer 6 kr. für das Schock zahlt, das er durch seine Arbeit gewinnt. Beide – Eigentümer und Pächter – führen, wenn sie nicht besonderes Glück haben, ein recht armseliges Dasein bei harter Arbeit.

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Das Glück der „Abbrandler“. Fast in jedem Dorf kamen wir an einem abgebrannten Haus vorüber. Bei einer solchen Brandruine richtete ich an meinen Führer die Frage, ob er Mitglied der Ortsfeuerwehr sei. „Nein, das wäre bei uns schädlich!“ war seine vielsagende kurze Antwort. Ich forscht weiter und bekam eine Erklärung, die vielleicht mehr als alles Andere das Elend in den tschechischen Dörfern illustriert. „Die Leute zünden ihre Häuser selbst an, um Geld zu bekommen, wenn sie die Zinsen und Prämien nicht mehr zahlen können.“ Dann darf eben keine Feuerwehr zur Stelle kommen. Das Haus muß aus zwei Gründen bis auf die Grundmauern ausbrennen. Es müssen die Spuren der Brandlegung verwischt werden, und brennt nicht das ganze Haus ab, so ist der Ersatz seitens der Versicherungsgesellschaft ein noch geringerer, als er dies ohnehin ist. Mehr als 25 Perzent der Versicherungssumme

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zahlt die Versicherungsgesellschaft selten. Da kommen zumeist außergerichtliche Ausgleiche zu Stande. Den Versicherungsgesellschaften sind diese Zustände wohl bekannt. Darauf deutet außer der Vorenthaltung der vollen Versicherungsbeträge auch die große Anzahl der Verträge hin, die sie selbst löst. Sie verzichtet auf ein Geschäft, das mit so großem Risiko verbunden ist. Hie und da hören ihre Agenten von „ angesagten“ Bränden, und dann werden mit Beschleunigung die Verträge gelöst. In den tschechischen Dörfern hat man schon eine ganz eigene Terminologie für diese Glücksbrände: „Weißt D’, warum er sein Haus ‚weggefeuert’ hat?“ – „In X sind sechs bis sieben Brände zu ‚hoffen’.“ Auch lustige Brandgeschichten werden erzählt. So hat in ein Haus der Blitz am Vormittag eingeschlagen, und am Nachmittag erst zündete er, und das Haus brannte nieder. Nicht immer natürlich gehen die Brände so „glücklich“ aus. In einem Falle trat ein Wolkenbruch als Feuerwehr auf, und der Mann mußte seiner Familie ein halbverbranntes Haus zurücklassen, denn er selbst wanderte in den Kerker. Gewöhnlich hilft die Ortsbewohnerschaft bei Bränden mit. Freilich nicht als Feuer- sondern als Vertuschungswehr. Bei einem frisch abgebrannten Haus sahen wir auf der abschüssigen Wiese, die zum Dorfe führt, geschwärzte Streifen im Gras. Es waren die Spuren der Wegräumungsarbeit. Kommt eine behördliche Kommission, so soll sie nur die vier rauchgeschwärzten Mauern vorfinden – keinen Balken, keinen Trümmerhaufen, in dem doch noch – die Herren vom Gericht sind gar gescheit und die Spekulanten auf die Versicherung gewitzigt – Spuren der Brandlegung gefunden werden könnte. Die Besitzer der Käufer leitet nur ein Gedanke: der völlige Zusammenbruch soll aufgehalten werden. Die Möglichkeit, daß er gerade dadurch beschleunigt werden kann, schreckt sie nicht. Wer in dem Kerker einer Lampendrückerstube Jahre dahingelebt hat, für den hat der Kerker, den die menschliche „Gerechtigkeit“ errichtet, keine Schrecken...

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Die Wirkungen des Industrieniederganges bleiben nicht auf die Arbeiter und Lieferanten allein erstreckt. Als die Lampdendrückerei in den tschechischen Dörfern heimisch wurde, kamen auch Handwerker in die Gegend, in der Hoffnung, daß sie durch die Industrie zu Erwerb kommen werden. Einem solchen begegnen wir in der Wohnung eines der wenigen sozialdemokratisch gesinnten Arbeiter. Er ist ein Formschlosser. Mit Tränen im Auge erzählt uns der noch junge, rüstige Mann sein Unglück. Vor fünf Jahren kam er in die Gegend und errichtete mit 1200 fl. Kapital eine Formschlosserei. Im Anfange ging es noch leidlich. Da wurden noch neue Muster gebraucht. Aber von Jahr zu Jahr wurde es schlechter. Heute ist er am Bettelstab. Er möchte heute

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sein ganzes Zeug um 500 fl. Hergeben. Nur so viel will er retten, um auswandern zu können. Aber was er auch unternommen – er findet keinen Käufer. Er schuldet seit dreiviertel Jahren den Zins, der Hausherr ist ungeduldig, wie lange noch, und er wird ihn auspfänden. Was dann? Mutlose Verzweiflung spricht aus seinen Mienen – er hat selbst schon das Vertrauen zu seinen arbeitsharten Händen verloren, mit denen er sich als Gehilfe einst 2 fl. im Tag erhämmerte. Demnach gibt es für ihn keine andere Hilfe, als die er sich selbst mit seiner Hände Arbeit bringt.

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In einem Bettlerhause. In Huntirov treffen wir in einer Stube drei Frauen und neun Kinder. Wir sind in einem Bettlerhause. Die eine Frau mit dem zu ihr gehörigen Drittel der Kinder ist auf Besuch da. Die anderen beiden sind die Hausbesitzerin und ihre Mieterin, die 12 fl. Jährlich Zins zahlt. Diese darf in der einigen Stube des Häuschens wohnen und kochen. Der Dachboden ist ihr Schlafgemach. Sie teilen ihn mit dem „Hausherrn“, dem Manne, der mit der Hausbesitzerin in wilder Ehe lebt, und einer Schwägerin der Frau. Die einzige arbeitende Kraft im Hause ist der Mann der Mieterin. Er ist in einem Nachbardorfe Glassprenger. Er verpflegt sich selbst. Für seine Familie bleibt manchmal nichts, manchmal eine Kleinigkeit vom Lohne übrig. Sein Wochenlohn beträgt 2 bis 2 œ fl. Der Hausherr ist durch die Arbeit fast erblindet – er geht fechten. Die Hausfrau lebt auch vom Bettel, ebenso die Frau des Glassprengers und alle die Kinder. Gibt es Anreiharbeit, dann erwerben sie die Erdäpfel durch diese. Es ist ein furchtbar trauriges Leben in diesem Bettlerhause....

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Der Feldbau ist gleich armselig anzuschauen, wie alle anderen Bilder, die man in diesen Dörfern sieht. Hinter dem Bettlerhause stehen wir auf einem frisch erworbenen Acker, den sich ein hagerer Mann urbar macht. Das ganze Feld ist wie übersät von Felsstücken, die er Stück um Stück aus der Erde hauen muß. Er schleppt dann die Steine zu Haufen und gewinnt doch ein Stück Feld, auf dem er wenigstens das Hauptnahrungsmittel, Erdäpfel, selbst bauen kann.

In der tschechischen Nationalausstellung in Prag 1896 war ein Skulpturwerk zu sehen, das mächtig zu dem Beschauer sprach: vor einem Pflug waren einige Weiber gespannt, die auf dem aufgewühlten Acker mühsam dahintrabten. Den Pflug regierte ein Alter. An dieses Bildwerk wurde ich in diesen Tagen oft erinnert – konnte ich doch den Vorwurf dieses sozialen Kunstwerkes in jedem Dorfe schauen. Selten sah ich eine Kuh oder ein Pferd vor Pflug

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und Egge gespannt – fast immer mußten zwei, drei Weiber die Kraft eines Tieres ersetzen und mit ihrem Schweiße den Boden tränken, damit sie in herber Wintersnot wenigstens mit Erdäpfeln versorgt sind.

Der Boden ist steinig und unfruchtbar. Der Winter lang, und noch im Mai fegt von der Schneekoppe her oft eisiger Wind über die Felder. Dazu kommt noch der Mangel an Dünger. Wie viel hätte aber gerade hier bei den schlechten natürlichen Bedingungen der Landwirt nachzuhelfen? Er kann es eben nicht. Mit dem Schiebkarren, „Raup’r“ heißt’s im Gebirge, führt der Bauer den Dünger zu, und mit den Händen verstreut er ihn auf dem Acker. Was kann da gedeihen in dem kurzen Sommer? Kaum so viel, als er und seine Familie zum Sattesen brauchen würden.

So greift ein Elendsglied ins Andere. Wäre der Boden ergiebiger, das Klima günstiger, so wäre der Bauer Bauer geblieben und er hätte nicht in der Industrie Nebenerwerb suchen müssen. Die Industrie hatte die billige Arbeitskraft des bedürfnislosen Bauern, der sich nur das Salz zu seinen Erdäpfeln verdienen wollte, bald ganz für sich in Anspruch genommen, und nun gibt es kein Zurück mehr. Die einst kräftigen Menschen sind hautüberspannte Knochengestelle geworden, die nun in der landwirtschaftlichen Nebenarbeit dem ohnehin sterilen Boden fast gar nichts mehr abringen können. Lungentuberkulose und Hungertyphus sind die Mäher, die dem Tod die reiche Ernte bereiten. Was hier stirbt, hat nie gelebt.

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Der reichste Wochenverdienst, den ich antraf, war 3 fl. 50 kr. Der betreffende Arbeiter erzeugt durch Druck Besatzsteine, die als geschliffene Ware gelten. Er bekommt per Bund 33 kr. In der Woche drückt er 20 Bund. Darauf hat er 3 fl. 08 kr. Auslagen, es bleiben ihm also bei einer Höchsteinnahme von 6 fl. 60 kr. als Lohn: 3 fl. 52 kr. – dieser für die 80stündige effektive Arbeitszeit. Diesen Lohn erreicht er aber nur, wenn er die ganze Woche zu tun hat. Ist er durch die Lieferung aufgehalten, oder muß er sich die Form richten lassen, so geht ein halber Tag verloren, und dieser Entgang drückt sich schon in der Lohnsumme aus. Dennoch ist er weitaus der bestgestellte Lampendrücker, den ich antraf – der Einzige, der allsonntäglich ein halbes Pfund Fleisch im Topfe hat. An Wochentagen sind natürlich Erdäpfel auch seine Hauptnahrung.

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Im „Tuberkolosenheim“. Was ich in der nächsten Hütte zu sehen bekam, wird mir Zeitlebens unvergeßlich bleiben.

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Wir traten in eine Stube, die 3.6 Meter breit, 3.7 Meter lang und 2.6 Meter hoch ist, also einen Luftraum von 34.6 Kubikmeter hat. Dieser dreifenstrige Raum diente als Wohn- und Kochraum für 4 Personen: für ein Greisenpaar und seine beiden Söhne, die, 25 und 28 Jahre alt, beide an hochgradiger Lungentuberkulose leiden, und als Schlafraum für den einen Tuberkulosen und die alte Mutter, die mit ihm das Bett teilt. 34.6 Kubikmeter Luftraum für vier Personen, darunter zwei Sterbenskranke! Das sind furchtbare Ziffern, die namentlich den Arzt mit Entsetzen erfüllen müssen. Im Wiener allgemeinen Krankenhause, das wegen seiner dichten Belegung berüchtigt ist, hat jedes Bett doch einen Luftraum von 18 Kubikmetern, in dem leider einzigen Tuberkulosenheim Österreichs, in der Heilanstalt Alland, aber hat jeder Kranke im Schlafraum 40 Kumbikmeter Luft, um 5.4 Kubikmeter Luft also mehr als in Huntirow, wo wir dieses Elendsbild sehen, vier Personen haben. Dabei sind die Pfleglinge von Alland tagsüber in frischer Luft oder in anderen Räumen, und die Schlafräume werden tüchtig ventiliert und gelüftet. Hier aber erlaubt es nur der Sommer, daß gelüftet wird. Den ganzen Winter über ist der unter seinen Lumpenhüllen frierende Kranke ängstlich vor jedem reinen Lufthauch behütet.

Der Jüngere, Bohumil, sitzt beim Ofen auf einem Stockerl. Er trägt nur Unterkleider. Um den hageren Kopf von eckiger Zeichnung hat er nach Frauenart ein buntes Tuch gewunden. Er schlürft aus einem Häferl heiße Milch, und dazu ißt er Schwarzbrot. Er war durch acht Jahre Lampendrücker und früher schon seit seinem 14. Lebensjahre Sprenger. Beide Tätigkeiten haben den seit je schlecht genährten Proletarier so herabgebracht.

Der Ältere, Sölestin, ist noch schlimmer daran. Seit drei Jahren ans Bett gefesselt, fühlt er, daß er seinen bettelarmen Eltern – der Vater ist Flickschneider – zur Last fällt, und ersehnt sich den Tod, der ihn nicht erlösen kommt. Als zehnjähriger Junge begann er Glasperlen zu sprengen, und der feine Glasstaub, der ihm hiebei in seine zarte Lunge drang, besorgte die Vorarbeit des Todes. Was der Glasstaub in den sieben Jahren nicht fertigbrachte, das besorgten die acht Jahre Lampendrückerei, die dann folgten. Mit dem 25. Lebensjahre war er mit seiner Kraft zu Ende, und seither wartet er auf Erlösung. Wie ein Gespenst sitzt er in seinem Lumpenbette. Auch er trinkt eben Milch. Er ächzt dabei. Dann hustet er, daß es Einem durch Mark und Bein geht. Er legt sich wieder kraftlos auf das schmierige Polsterwerk zurück, zieht die aus zahllosen Fleckchen genähte Decke über die Brust und stiert aus tiefliegenden Augen zu mir herüber. Über die Füße hat er einen alten Winterrock gebreitet. Es ist ein Bild höchsten Jammers.

Zwischen Iser und Neisse! 41-48 1900

{Glass-Study.com: 8 Seiten fehlen 41-48 Kapitel: Die Kitt- und Lötsteinchendrückerei, Ein Glasarbeitertanz, Bei einem Knopfdrücker, In den Druckhütten – erster Teil}