Zwischen Iser und Neisse (G)

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sich seiner Form. Er bläst mit seiner Lungenkraft Perle um Perle. Während er eine Perle bläst, erwärmt sich der Stengel für die andere. Diese Erleichterung, die die Arbeitsleistung verdoppelt, macht der „Knecht“ möglich, der vor der mit einem Schirm gedeckten Stichflamme steht. Der Perlenbläser muß dafür aber große Qual mit in den Kauf nehmen. Man vergegenwärtige sich einmal die folgende Stellung: Er sitzt an der rechten Tischecke auf einer Bank. Den rechten Arm hat er auf den Tisch, und zwar auf die rechtsseitige Tischkante mit dem Ellbogen aufgestellt, die rechte Hand hat er beim Mund, er dreht damit den Glasstengel. Der linke arm ist an die Hüfte angedrückt, die Hand liegt mit dem Rücken auf dem Tisch neben der Öllampe auf. Sie unterstützt die Aktion der rechten Hand, das Drehen des Stengels. Man gebe einmal seinem eigenen Körper die beschriebene Stellung und acht dabei darauf, daß die Hände dieselbe Hochlage haben, das heißt, daß der von ihnen dirigierte Stengel parallel mit der Tischfläche ist. Hat man die Stellung, dann blase man Luft aus. Das Atmen ist ungemein erschwert. Der Kopf muß nach rechts über den Tisch geneigt werden, wodurch Schmerz im Genick entsteht. Das erschwerte Atmen und das Andrücken der Brust hat Brustschmerzen zur Folge. An der linken Hand geht die ungewohnte Stellung auch nicht spurlos vorüber. Der Knechtperlenbläser müßte ein Schlangenmensch sein, wenn sein Körper diese mörderische Stellung ohne Schmerz aushalten sollte. Dazu kommt noch, daß er mit dem linken Fuß den Blasebalg treten muß, um die Stichflamme anzufachen. Der rechte Fuß ruht auf dem Boden auf. Der Bläser klagt darüber. Die ganze rechte Seite und namentlich der Bauchmuskel tun ihm weh. Hat er etwas gegessen, so fühlt er einen Druck auf der rechten Seite.

Die Pausen in dieser Stellung zählen nach Sekunden – die dauern so lange, bis er den inzwischen erwärmten Klautsch vom „Knecht“ weggenommen und einen anderen Stengel hingelegt hat. Unsereiner würde nicht fünf Minuten lang diese Stellung aushalten, und der Knechtperlenbläser sitzt 16 bis 17 Stunden im Tag an seinem Martertisch und bläst Perle um Perle für einen Lohn, der ihm nicht genug für Kartoffeln gibt. Folgende Zusammenstellung gibt uns ein Bild seines Lohnes:

Bei zehn Bund (1000 Dutzend Perlen) hat er folgende Auslagen:

  Glas
40 kr.
 
  1 Kilo Öl
27 kr
 
  Silber
40 kr.
 
  Fertigmachen
50 kr.
 
   

 
   
1 fl. 57 kr.
 
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Der Bruttolohn per Bund betrug vor dem Streik 28 bis 30 kr. Die Produktivgenossenschaft zahlt 32 kr. oder

für zehn Bund   3 fl. 20 kr.
Hievon gehen die Auslagen ab   1 fl. 57 kr
 
bleibt für zehn Bund ein Nettolohn von 1 fl. 63 kr.

Wie lange arbeitet er an zehn Bund oder, genauer gesagt, welche Zeit braucht er, um 12.000 Perlen aus freier Hand Stück für Stück zu blasen? Vierzig Stunden. Er bläst also in der Stunde 300 Perlen oder in der Minute fünf Perlen. Der Leser vergegenwärtige sich noch einmal die oben beschriebene Stellung und er wird nun erst die ganze Qual des Knechtperlenbläsers voll begreifen. Kehren wir wieder zur Frage des Lohnes zurück. Wir haben für 40 Stunden effektive Arbeit einen Lohn von 1 fl. 63 kr. oder für die Stunde mörderischer Akkordarbeit von vier Kreuzern gefunden. Der Knechtperlenbläser arbeitet 16 bis 17 Stunden im Tag, sein Lohn beträgt dafür 64 bis 68 kr.

Wen könnte es da wundern, wenn er klagt: „A ganz’Jahr hast keen Tag un’keen Sunntich (Sonntag); Tag und Nacht for a paar Sechser!“ Was er nicht über sein Elend zu erzählen weiß, das sagt sein abgemagerter Körper zur Genüge. Eine schlotternde, sieche Gestalt, die nur mehr in dem gewohnheitsmäßigen Trott als Knecht des „Knechtes“ Sicherheit hat. Bei der Formperle würden die Knechtperlenbläser größeren und leichteren Verdienst finden – sie bleiben aber bei der alten Produktionsform, auf die sie eingearbeitet sind. Sie haben nicht das Geld, um sich die Apparate zur Formperle zu beschaffen. Dazu kommt die Angst vor dem Übergang. Das Gespenst des Hungers schreckt sie ab, den entscheidenen Schritt zu tun. Sie fürchten den noch geringeren Verdienst, bis sie sich eingearbeitet haben, und bleiben darum der Knechtperle treu, trotzdem sie „Tag und Nacht for a paar Sechser“ sich mörderisch schinden müssen, trotzdem sie die Grenze menschlicher Leistungsfähigkeit weit überschreiten müssen, um einen Lohn zu erwerben, der nur Unterernährung ermöglicht.

Die Industrie könnte ohne die Knechtperle, die haupsächlich zum Unterreihen bei gemischten Kolliers dient, ganz gut existieren.

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Menschenliebe! In der nächsten Hütte bin ich ihr begegnet, der wahren echten Menschenliebe. Ich traf ein lungenkrankes verwitwetes Weib, das keine Stütze auf dieser Welt hat und dennoch selber einem noch schwächeren Wesen Stütze ist. Die Woche über bläst sie Formperlen, die sie am Sonntag fertig macht. Ihr Stundenlohn beträgt 7 œ kr. Mehr als sechs bis sieben Stunden im Tag ist sie nicht fähig zu arbeiten. Höchstens acht noch! „Zahne kennt’

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ich ne mieh, manchmal och nur dreee, viere.“ Ihr gewöhnlicher Wochenverdienst beträgt 2 fl. 70 kr. bis 3 fl. „Vierthalbe Gilden verdien’eh sehr salten,“ sagt sie selbst. Auf der Bank sitzt ein flachshaariger Junge. Ich frage die Frau nach ihm „...’s ist ein ogenommener Junge, weil er Niemanden hat, weil er een Wesenkind is...ich bin die Tante zu ihm...“ erklärt die sieche Frau einfach. Sie selber hat nichts zu nagen und zu beißen und dennoch teilt sie den kargen Bissen mit dem armen Waisenkind, das der „Schützer der Schwachen“, der mächtige Staat, im Stiche läßt.

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Die Klage der Perlenbläsering. In Wiesenthal kehren wir bei einer Perlenbläserin ein, welche „glückliche“ Mutter von acht lebenden Kindern ist. Zwei sind „in der Liehra (Lehre), eener lernt Gortler, der andere Schuster“. Die Übrigen marschieren im Alter von 1 œ , 4, 6, 8, 10 und 12 Jahren auf. Alle acht sind noch zu Hause, auch den beiden Lehrjungen müssen die Eltern immer noch Alles schaffen und ihnen zu essen geben. Alle 6 Kinder hatten kurz vor meinem Besuche Scharlach überstanden. Das Kleinste war noch so schwach, daß es nicht einmal sitzen konnte, und am Herbst zuvor hatte es schon laufen können. Alledem hielt die tapfere Mutter stand. Sie bläst „Birnen“, die zum Einreihen oder als Endstücke bei Perlenkolliers verwendet werden. „Was verdienen Sie?“ fragte ich – „A Jesus und Josef, mit mei Verdienst...achtz’g Kraizer, a Gilden, a Gilden fofz’ch – frieh, wenn And’re schlafen, sitz ich schon dabei...“ Und Ihr Mann? – „Was verdient a Drucker jetzt? Gar nischt! Was meenen Sie, wenn a a Woche a Gilden siebz’ch verdient? Mieh is es nie seit wenichstens 17, 18 Wochen. Fünf Tage in der Woche Arbeit...nee,“ vollendet sie kopfschüttelnd, „uns geht’s verflucht hundsschlecht...“ Nach einer Pause: „Unsere Kinder kriegen tagtäglich dreimal ungeschälte Arepl (Erdäpfel). Sie tun s’mit den Schalen assen. An Sunntich hat der Mann Quark gebracht und Gries un’ Botter für die Kinder, er konnte es nie sehn. Seit vier Jahr’n is der Verdienst so schlacht. Seit 1894 is die große Arbeitslosigkeit. Ich bin tagtäglich waschcen gegangen, daß wir was zu frassen hatten und den Pacht hatten gekriegt.“

Wiesenthal hat, wie fast alle Gemeinden im Isergebirge, eine sehr schöne Schule. Darauf sehen die nordböhmischen Gemeinden. Sie haben den Wert der Volksbildung erkannt. Ich wollte aber auch wissen, ob sie den Kindern der Armen Gelegenheit geben, in diesen schönen Gebäuden auch etwas zu lernen. Da bekam ich dann schon minder gute Auskünfte. So auch hier. Ich fragte die Frau, wer ihren vier schulpflichtigen Kindern die Lermittel gebe. „Wir,“ sagte sie darauf. „Sie haben noch nie für zwiene Kraizer a Büchl

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kriegt. And’re kriegen s’ wohl. Wir brauchen nur keen Schulgeld zu zahl’n seit zwiene Johr’n.“

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Die Atlasperle. Von einer Verschollenen wollen wir in den folgenden Zeilen reden, von der Atlasperle. Wir brauchen nicht auf den Spitzberg zu steigen, wo die alte Teppertoni wohnt und gegen niedrigsten Lohn Atlasoliven bläst, den einst viel begehrten, blühenden Industrieartikel. Auch in Albrechtsdorf können wir die Erzeugnisse dieser sterbenden Industrie vor unseren Augen entstehen sehen. Zuerst das Ziehen der Atlasstengel in der gespenstisch erleuchteten Komposithütte, dann das Blasen der größeren Atlasperlen, das Ziehen der kleineren, das Anreihen zu farbenprächtigen Kolliers; wir sehen, was kunstfertige Hände sonst mit Hilfe dieser Perlen fertigen: Diademe, Bouquets, Phantasieschmuck für Frauenköpfe, Schmetterlinge, und wir hören von dem Besitzer der Hütte das traurige Lied von dem Niedergange eines schönen Industriezweiges. Es ist dasselbe traurige Lied, das wir auf unserer Wanderung im Gebirge schon so oft gehört haben.

Die Kompositerzeugung ist in den Familien erblich, das heißt, die Rezepte der Erzeugung gewisser zusammengesetzter Glasarten vererbt der Vater dem Sohne und dieser wieder seinen Nachkommen. In jeder Komposithütte hat man andere Geheimnisse zu hüten und daraus Nutzen zu ziehen. Die Söhne begnügen sich aber nicht mit der Wahrung des Geheimnisses, sie sind fort und fort auf der Suche nach neuen Zusammensetzungen. Der Konkurrenzkampf mit der großen Riedl’schen Hütte zwingt sie, immer wieder zu probieren und zu laborieren, bis ihnen endlich die Erzeugung einer begehrten Komposition gelingt. Der Kompositionsglaserzeuger, der seine Sache ernst nimmt, wird immer grübeln und sinnen, wie ein Alchymist immer und immer wieder die pulverisierten Mineralien und Chemikalien mengen, und er wird in jedem Brand auch sein kleines Probetöpfchen stehen haben, in dem er zur Schmelze bringt, was er gemengt. Um dieses kleine Töpfchen hat er oft nicht geringere Sorge, als um die großen Hafen, in denen er die bereits bewährten Mischungen dem Brand aussetzt. Wird ihm diesmal der Wurf gelingen? Wird er diesmal den Karneol getroffen haben oder den durchsichtigen, blaßblauen Amethyst oder sonst eine Farbe, die dem herrschenden Geschmack zusagt und die darum für ihn wirkliches Gold bedeutet? Der Besitzer der Kompositionshütte, bei dem wir vorsprachen, ist ein kleines bewegliches Männchen zu Anfang der Fünfzig. Er zeigt uns etliche Ergebnisse seiner Bemühungen, so auch einen Tiegel mit Karneolimitation. Das Glas ist dem beliebten Edelstein schon täuschend ähnlich – aber noch fehlt etwas. Die Farbe ist noch nicht ganz richtig – aber er kriegt’s heraus – wie

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Sonnenschein huscht es hoffnungsfreudig über sein Antlitz, da er sagt, daß er jetzt schon genau wisse, was noch fehle.

Wir treten in den finsteren, schwarzen Kompositionsraum, in die Hütte, wo wir Alles in voller Tätigkeit finden. Der Mischer ist an einem Trog beschäftigt. Mit einem rechenartigen Holzwerkzeug mengt er die verschiedenfärbigen Mehle so durcheinander, daß sie schließlich einen Farbton geben. Der Besitzer der Hütte steht inmitten von Kistchen und Papiersäcken, die mit den verschiedenen Bestandteilen gefüllt sind, und streut in das wogende Gemenge immer noch neue Pulver, die er früher genau gewogen hat. Feiner, weißlicher Staub erfüllt die Luft. Ein zweiter Arbeiter füllt die fertigen Mischungen in glasierte Tontöpfe, die in äußeren Schutztöpfen stehen. Auch hiebei wirbelt der feine Mineralstaub auf. Die vollen Töpfe werden zugedeckt und kommen dann in den gemauerten Brandofen. Sie werden „eingesetzt“. Während des Einsetzens schlägt dem Arbeiter verdampfende Salpetersäure in die Nase. Er hustet. Dann wird auch die offenen Wand des Ofens vermauert und zugleich langsam angefeuert. Der Brand hat begonnen. Er währt 24 Stunden, nach welcher Zeit in den Töpfen flüssige Glasmasse ist.

Während sich dieser Prozeß an der rechten Seite des Raumes abspielt, sehen wir zur Linken in der gespenstischen Beleuchtung eines Holzfeuers, das auf dem Ziehofen knisternd brennt, zwei junge Menschen – den Zieher und den Bläser. Sie fertigen die zur Perlenerzeugung nötigen Atlasstengel. Der Ziehofen hat viereckige Gestalt. Vor der offenen Hauptwand steht der Zieher. Sein Hilfsarbeiter hat seinen Platz an der rechten Seite des Ofens, von wo aus er die Anfeuerung besorgt. Gefeuert wird mit langen dünnen Holzscheiten, die auf einer frei über dem Ofen hängenden Schaukel aufgeschichtet sind. Das Holz soll tüchtig ausgetrocknet und durchwärmt sein, damit es sofort die nötige Hitze gibt.

Der Zieher hat an der Pfeife den angewärmten Glasklumpen, den Klautsch, den er im offenen Feuer dreht. Jetzt nimmt er den Klautsch heraus, legt ihn auf die Werkbank und sticht aus dem schon weichen Glasklumpen Bläschen aus, die ein Anderer auf der rotglühenden, hitzestrahlenden Außenfläche gar nicht sieht. Er streicht dann die Form flach und eckig, so daß sie aussieht wie ein Zylinder, dann gibt er ihr Flaschenform, dann knetet er den glühenden Glasteig zur Kegelform um – endlich rundet er ihn zur Kugel. Jeder dieser Wandlungen geht eine Feuerprobe voraus. Der Klautsch muß immer wieder in den Brand, um knetweich zu bleiben. Jetzt tritt der Hilfsarbeiter, der bisher nur feuerte, als Bläser in Aktion. Während der Zieher die Kugel in einer brandschwarzen Holzform rundet, bläst der Hilfsarbeiter in die Pfeife. Die Kugel schwillt an. Dieser Vorgang wiederholt sich einigemale.

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Immer größer wird die Hohlkugel dank der Lungenarbeit des Hilfsarbeiters, eines noch jungen Burschen. Nehmen wir die Hohlkugel als Erdkugel. Die Eintrittstelle der Pfeife ist der Nordpol. Nach der nächsten Erwärmung der Kugel erfolgt ein Angriff auf den Südpol. Mit einer flachen spitzen Beißzange bringt der Zieher in die weiche Masse ein, zwickt die Zange zusammen und zieht nun eine Spitze heraus. Im nächsten Moment ist aus der kleinen glühenden Erdkugel eine kindskopfgroße glühende Birne geworden. Der Zieher taucht die Spitze der Birne ins Wasser, damit die Form gleich bleibt. Noch eine letzte Feuertaufe, und nun schwingt er die an der Pfeife baumelnde Birne so lange, bis sie zur länglichen Wurst wird. Da greift auch schon der Bläser zu. Mit einer Zange fängt er die Wurst am anderen Ende und dann laufen Zieher und Hilfsarbeiter nach verschiedenen Richtungen in den Ziehgang, der sich zur Linken des Raumes nach Nord und Süd in einer Länge von 100 Metern erstreckt.

Eine Minute der Spannung! Wie sie hurtig laufen! Der Meister steht beim Ofen, folgt ihren flinken Bewegungen und beobachtet, ob der Zug gleichmäßig gelingt. „Stater! Stater!“ ruft er dem Hilfsarbeiter nach! „Schneller! Schneller!“ schreit er dem Zieher zu, der, in der Zugbahn springend, die Pfeife am Mund hat und aus Leibeskräften blasen muß. Schneller! Schneller! Je weiter er kommt, desto kräftiger muß er blasen, damit der Stengel hohl bleibt und seine Wand möglichst schwach wird. Der Zug ist gelungen. Aus der rotglühenden Wurst ist ein 100 Meter langes dünnes Glasrohr geworden, gleich weit wie der Stengel des saftiggelben Löwenzahns, der hinter der Ziehütte auf der Wiese blüht, nur unendlich länger, im Umfang stärker und glänzend, als wäre der Stengel von Seide umflossen. Befriedigt wendet sich der Meister ab. Atemlos kommt der Zieher zurück. Er wärmt ein neues Kompositionsstück an die Pfeife an und legt sie dann in das glühende Ofenloch. Ein Moment der Ruhe tritt ein. Bis das Glas knetweich wird, kann er einige Züge aus seiner anderen Pfeife tun. Dann beginnt er wieder die Hetzjagd von vorhin.

Während der Zieher den Klautsch bearbeitet, zerschneidet der Hilfsarbeiter den Stengel in ellenlange Stücke. Gleich darauf ist er Feuerwehrmann. Der Holzstoß über dem Ofen, der schon einige Zeit verdächtig rauchte, beginnt zu brennen. Plötzlich schlagen die Flammen heraus. Der Hilfsarbeiter ist darauf gefaßt. In einem Bottich neben dem Ofen hat er Wasser und eine Gartenspritze. Mit dieser bestrahlt er die brennenden Hölzer. Zischend füge die sich in ihre Rettung vor dem unzeitgemäßen Feuertod. Eine Dampfwolke steigt auf und verliert sich in dem Rauch, der in den höheren Partien der Hütte ständig lagert.

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Welch ein Unterschied zwischen dieser kleinen Kompositionshütte und den großen Glashütten der Firma Riedl, die wir im ersten Kapitel kennen gelernt haben. Es ist wie Tag und Nacht. Hier Alles eng, rauchschwarz die Wände, dumpf und voll schädlicher Stoffe die Luft – dort hohe, luftige Räume, in die durch hohe 100fenstrige Glasöffnungen Licht flutet, hier die primitive geteilte Produktion (Brand- und Ziehofen), dort die vortgeschrittene, Material sparende, einheitliche Produktion, die gleich aus dem Brand heraus arbeitet, was hier erst verkühlen muß, um dann nochmals schmelzweich gemacht zu werden. Hier für die ganze Produktion ein Raum, dort für jede Phase der Produktion ein Raum: Kollergang, Mischraum, Ziehhütte, Sortierraum etc. Der Glaskönig hat wahrlich eine armselige Konkurrenz, deren heroischen Kampf man fast bewundern muß. Er wäre einer nützlicheren Sache würdig.

Die Löhne der Arbeiter sind im Anbetracht des Lohnniveaus im Gebirge gut. Der Zieher hat 1 fl. 50 kr. täglich uand die Kost, der Hilfsarbeiter 70 kr. bis zu 1 fl. und gleichfalls die Kost. Die Arbeitszeit richtet sich nach den Aufträgen. Die beträgt 10 bis 12 Stunden.

Umso schlimmer ist die Lage der Glasarbeiter, die aus den Atlasstengeln Perlen ziehen oder blasen. Ihr Tagesverdienst beträgt kaum 30 kr. Dieser Zweig der Perlenindustrie ist schon so abgestorben, daß es gar Niemand beachtete, als auch die 80 bis 100 Arbeiter dieses Zweiges im Vorjahre in Streik traten. Die Atlasperle ist viel leichter wie die gewöhnliche Hohlperle, sie müßte sich für Hutschmuck und Kleiderbesatz deshalb und wegen ihres Seidenglanzes gut eignen. Dennoch mißachtet die launische Göttin Mode ganz die Erzeugnisse dieser Industrie! Woran dies liegt? Es fehlt dem Produkt ein tatkräftiger Mann, der es der Welt bekannt machen würde.

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Die Pariser Feingoldperle unterscheidet sich von der gewöhnlichen Goldperle, dem Massenartikel, dadurch, daß sie aus besonders feinem Glas hergestellt, mit Gold eingezogen und in der Ausführung und Fertigstellung viel sorgfältiger behandelt wir. Das Absatzgebiet dieses schönsten Perlenproduktes, das sich durch ungeheuren Formenreichtum auszeichnet, ist ein keineswegs beschränktes. Außer ihrer europäischen Bestimmung als Modeartikel hat sie noch einen ganz hervorragenden Wert als Verkehrsmittel mit unzivilisierten Völkern. Der Afrikareisende – sei er nun Forscher oder Handelsmann – der mit wilden Völkern in Berührung kommt, muß mit diesem Flitter reich ausgerüstet sein, will er seinen Zweck erreichen. Der Goldglanz dieser Glasperlen blendet das

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Auge des Wilden so, daß er solche Perlen weit über ihren wirklichen Wert einschätzt. Es gibt zum Beispiel eine nußgroße kubische Perle, die in Timbuctu einen Marktpreis von einem Maria Theresia Thaler hat – der reale Herstellungswert dieser Perle beträgt kaum einen Kreuzer. In der Unkenntnis des wirklichen Wertes ihrer eigenen Handelsartikel und des zum Tausch gebotenen Flitters geben die Eingeborenen ihr Elfenbein und ihr wirkliches Gold für ein Glasgebläse hin, dessen Innenflächen mit einer dünnen Schichte Goldes belegt sind. Eine Schnur solcher Perlen gilt als Vermögen. Aber, und das ist das Merkwürdige, sie nehmen nicht jede Perle in Kauf. Sie sehen auf Form und Gewicht. Der schlaue Händler hat hierin auch schon einen Ausweg gefunden. Er erwirbt die kleinen Bijouterien, die die einheimische Goldschmiedekunst erzeugt, und nach diesen Mustern werden die Perlenformen gemacht, die dann dem Geschmack der „geehrten Herren Wilden“ entsprechen. Durch Gewichtskontrolle schützen sie sich vor minderwertiger Ware. So wie es die Eingeborenen von Timbuctu machen, so halten es auch alle übrigen Stämme. Dies erklärt den Formenreichtum dieser Perlen. Herr Dr. Iwan Weißkopf in Morchenstern, der als Einziger im Gebirge die Pariser Feingoldperlen erzeugt, hat auf seinen Musterkarten 1500 verschiedene Facons (Oliven, Birnl, Kletzl, Spitzl, Rundperle etc.) und Größen solcher Perlen aufgeheftet. Der menschlichen Phantasie ist ein ungeheurer Spielraum gegeben.

Das Gebläse läßt sich Dr. Weißkopf von Perlenbläsern außer Haus bestellen. Es sind damit 150 Personen, meistens Frauen beschäftigt. Das Fertigmachen wird in der Hauswerkstätte besorgt, die eher einem chemischen Labor gleicht. Zwei Arbeiter sind mit dem hier vollkommen gefahrlosen Einziehen des Metalls betraut. In einem anderen Raume wird das Anreihen und Packen der Perlenschnüre besorgt. Es ist gleichfalls Frauenarbeit.

Wer hier das Fertigmachen der Perlen gesehen hat und sich dabei der primitiven Einrichtungen erinnert, die die Perlenbläser zum Fertigmachen haben, dem muß sich der Gedanke aufdrängen, ob nicht wenigstens dieser Teil der Perlenindustrie der hausindustriellen Betriebsart entzogen werden könnte. Gerade hier wäre ja Großproduktion materialsparend und es könnte von den Perlenmachern mancher Schaden abgewendet werden. Man erinnere sich nur, wie es in dem „Laboratorium“ eines Perlenbläsers, der in beengten Verhältnissen wohnt, aussieht, und bedenke, wie leicht es möglich ist, daß unter solchen Verhältnissen die Silberlösung verunreinigt und dadurch allein oft der ganze Wochenverdienst in Frage gestellt wird. Würde der Produktivgenossenschaft eine solche Neuorganisation der Betriebsart wenigstens in diesem Teile gelingen, so

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würden nicht nur den Perlenarbeiternm, sondern auch ihr selbst wesentliche Vorteile erwachsen. Außer den Gefahren für Gesundheit wären von den Familien der Perlenbläser damit auch ein- für allemal die Gefahren abgewendet, die das Laborieren mit Chemikalien in engen, übervölkerten Wohnräumen mit sich bringt.

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Von der Spreng- und Schmelzperle

In dem Kapitel über die Besatzsteinindustrie haben wir bereits gehört, welche Umwälzung die Verwendung der Perlensprengmaschine in diesem Industriezweig hervorgerufen hat. Die armselige Erzeugung der Sprengperle war fast ausschließlich auf das tschechische Gebiet im Semiler Bezirk beschränkt, wo heute entnervte Sklaven Tag und Nacht die Besatzsteinchen drücken und – ohne die Folgen zu kennen – die Löhne und damit zugleich die Industrie niederdrücken lassen. Die Sprenger von einst saßen bei ihrer in wagrechter Achse laufenden Sprengscheibe, die sie durch Drehen mit dem Fuße in Bewegung setzten und sprengten durch Abfeilung Perle um Perle von dem dünnen Glashohlstab ab. In einem der Grenzorte des Sprachgebietes traf ich noch so ein Überbleibsel früherer Zeit, einen alten Sprenger, der sich von der rastlos fortschreitenden Zeit hatte überflügeln, anstatt mitreißen lassen. Im besten Falle kann er im Tag ein Kilo Perlen sprengen. Es ist eine Arbeit, die er aus Mitleid bekommt. Sein Schwager ist sein Lieferant, und darum bekommt dieser Alte nicht nur die Arbeit, sondern auch höheren Lohn, nämlich zehn Kreuzer für das Tausend Dutzend Perlen. 4000 bringt er im Tag bei 14stündiger Arbeitszeit fertig. Den wenigen anderen Handspregern, die derselbe Lieferant beschäftigt, zahlt er nur sieben Kreuzer für das Tausend. Diese können also bei angestrengtester Tätigkeit 28 Kreuzer im Vierzehnstundentag verdienen. „Früher,“ meint unser Alter, „war ich schneller auf die Finger. Jetzt bin ich schon 50 Jahre alt – seit vierzig Jahren bin ich Sprenger – schlecht sahn thu’ich auch schon. So ist nischt mehr zu verdienen.“ So er tröstet sich selbst mit dem Nachlassen seiner Tätigkeiten, ohne die wahren Ursachen inne zu werden.

Eine Wegstunde entfernt von ihm steht die Fabrik Hübner. Wäre er einmal in seinem Leben dorthin gegangen und hätte er sich die Sprengmaschinen angesehen, dann hätte er auch mit seinem geschwächten Auge erkennen müssen, woran es liegt, daß der Verdienst, den ihm Mitleid zuschanzt, ein gar so schlechter ist. An dem Tage voher hatte ich diese Sprengerei gesehen. Zuerst traten

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wir in ein Magazin, wo förmliche Barrikaden von Säcken, gefüllt mit Millionen und Millionen Sprengperlen, lagen, und dann wurden wir in die Fabrikationsräume geführt. Im letzten, einem Raum von der Größe eines Kabinetes, standen drei Sprengmaschinen, jede von einer Arbeiterin bedient. Während der Alte Perle um Perle von einem Stab absprengt, gehen hier 40 bis 50 Stäbe auf einmal durch einen Kamm, hinder dem sie die Guillotine erwartet, die rasselnd auf und nieder saust, 70 bis 75mal in der Minute! Ebenso oftmals köpft ein Messer die 40 bis 50 Stäbe. Die gewöhnliche Stundenleistung der Maschine beträgt 225.000 Stück, die höchste Stundenleistung des Handsprengers aber 3428 Stück. Die Maschine bringt in zehn Stunden 50 bis 60 Kilo fertig, der Handsprenger in 14 Stunden 1 Kilo. Eine einzige Sprengmaschine leistet also die Arbeit von durchschnittlich 80 Sprengern, und da zogen, als die Maschine eingeführt wurde, einige Hundert der 25x80 Sprenger, die damals damit ihr tägliches Brot fanden, mit Knüppeln bewaffnet gegen den Feind aus und wollten ihn vernichten. 25 Sprengmaschinen hätten genügt, um die 2000 Sprenger von ihrer martervollen, wenig erträglichen, gesundheitsschädlichen Arbeit zu befreien – mit einem Schlag war die Marter zu Ende, und dennoch zogen die Sprenger gleich den Webern in den Vierzigerjahren gegen die Maschinen zu Felde. Der Segen der Maschine kam ihnen nicht zugute. Darum zogen sie aus. Sie trugen nur den Fluch dieses Fortschrittes, der mit Bajonetten und Flintenläufen verteidigt wurde. Die Sprengmaschine vollzog jäh den Umschwung in der Industrie, kein Übergang milderte die Härten. Plötzlich war die Arbeitslosigkeit da, und es war Winter. Alle Härten trafen eine durch wahnsinnigen Robot geistig verkümmerte, ungebildete Waffe...Arbeitstiere im vollsten Sinne des Wortes, und diese hätten sich nicht aus dumpfer Verzweiflung plötzlich zur Gewalttat aufraffen sollen? Wer gab ihnen die Bildung, das Unrecht zu erkennen? Niemand! In dem Österreich der Achzigerjahre, wie ich mich mit Rücksicht auf die Zensurverhältnisse einschränkend ausdrücken will, kannte man nur zu gut die Macht der Bajonette. Frischaufgeworfene Grabhügel und geschlossene Kerkertüren hinter halb verhungerten Arbeitssklaven waren das traurige Schlußbild.

Heute sind bei Hübner in Gistei fünf, bei Juppe in Labau drei, bei Breit in Wiesenthal, dem damals der Hauptsturm galt, 25, und bei Riedl in Polaun 38 bis 40 Sprengmaschinen eingestellt. In Betrieb sind gegenwärtig von diesen 73 Maschinen im Ganzen 42. Aus einer einst nicht fähigen ist heute eine Industrie mit rießigem Absatz geworden, dies Alles durch Einführung einer Maschine, die von einer einzigen Arbeiterin

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ohne Mühe dirigiert werden kann und die dennoch die Arbeit von 80 Männern ersetzt.

Bei Herrn Hübner haben die Arbeiterinnen bei den Sprengmaschinen bei zehnstündiger Arbeitszeit 80 kr. Tageslohn und zwei Seidel Bier im Tag. August Juppe in Labau zahlt nur 65 kr. Taglohn. Aber selbst dieser klägliche Lohn ist noch gut zu nennen gegenüber den Löhnen, die für die Veredlung der Perle gezahlt werden. In dem rohen Zusand, wie die Perle die Sprengmaschine verläßt, wäre sie für die Modezwecke, denen sie dienen muß, nicht brauchbar. Die Bruchflächen sind rissig und scharfkantig, und die Perle selbst ist kantig, statt rund. Zur Verfeinerung der Rohperle geht die Industrie zwei Wege: die Perlen werden entweder in einer in Drehung befindlichen Trommel durch das Herumwerfen abgeschliffen und dann im Feuer poliert – oder sie werden vor dem Polieren auf Draht gefaßt und handgeschliffen. Während aber die rein mechanische Methode den wenigen hiezu nötigen Arbeitern, ortsüblich gemeint, anständige Löhne sichert (so zahlt Hübner dem Polierer 1 fl. 35 kr. Taglohn und gibt ihm, dem Feuerarbeiter, 3 Liter Bier, und Juppe zahlt 1 fl. 50 ohne Bier), sind die Handschleifer kaum viel besser daran als die tschechischen Lampendrücker. Ihre Gruppe ist zwar nicht sehr groß, da aber auch sie sämmtlich ihre Familien mit einspannen müssen, um das Stück Brot zu verdienen, verlohnt sich ein Abstecher in den Gerichtsbezirk Eisenbrod, wo diese Arbeiter, zumeist Tschechen, hausen.

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Bei den Perlenschleifern. In Ilowei treten wir zum erstenmal in diese neue Welt, in der uns als markanteste Erscheinung der sogenannte „Örtlpacht“ entgegentritt. Der Arbeiter braucht zum Betrieb seines Schleifstuhls mechanische Kraft, die er sich aber nicht mit eigenen Mitteln beschaffen kann. Darauf baut nun ein Unternehmer seine Spekulation auf. Er schafft Arbeitsräume, stellt Schleifstühle hinein und sorgt für mechanischen Antrieb. Er nimmt die Wasserkraft gefangen, oder er macht sich eine Dynamomaschine dienstbar. Das so aufgewendete Kapital fruktifiziert er nun nicht in der üblichen Weise, daß er auch noch menschliche Arbeitskräfte mietet, sich um Arbeit umsieht und nun flott darauf losarbeiten läßt, sondern er vermietet oder verpachtet die einzelnen Arbeitsstellen sammt Kraft – das „Ört“ – an die Arbeiter. Die Sorge um die Arbeit, die Beschaffung der sonst notwendigen Behelfe und der nötigen Vorarbeit, das Risiko der Arbeit und in gewissem Sinne auch das Risiko des Unternehmers überläßt er ganz

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und gar den Arbeitern selbst, die, verelendet und ungebildet, wie sie sind, zum Spielball von zwei Unternehmern werden.

In der Schleiferei von Ilowei ist Maschinenantrieb. Im Ganzen stehen gegenwärtig 16 Arbeiter bei ihren Schleifstühlen. Die Perlen sind auf Kupferdraht angereiht und laufen in schier unendlicher Kette über den rotierenden Stein, an den sie von einem Stück schwarzen Gummi, einer sogenannten Gummibürste, angedrückt werden. Es laufen gewöhnlich zwei bis vier solcher Perlendrähte durch die nasse Enge zwischen Stein und Gummi. Der Schleifer hält die Drähte in der linken Hand zusammen und dirigiert sie. Tausend um tausend Perlen klettern vor seinen Augen mit den Drähten in den Engpaß des Schleifzeuges, um dann auf der anderen Seite geschliffen und glänzend langsam zu Boden zu steigen – erst wenn das Hundertausend voll ist, hat er das Tagwerk vollbracht, das er vollbringen muß, wenn er nicht direkt verhungern will. Der Arbeiter steht im Dienst eines Lieferanten, der ihm 3 œ Kreuzer für das Schleifen von 1000 Perlen zahlt. Das würde auf den ersten Blick glänzend aussehen. Hören wir aber, was der Arbeiter für Auslagen hat.

Wir nehmen an, daß er 600.000 Perlen in der Woche (sechs Arbeitstage) schleift. Dies bedeutet eine Einnahme von 21 fl.

Seine Auslagen sind:

  Anreihen auf Draht 6 fl.  
  Draht 3 fl.  
  Gummi 1 fl.  
  Örtlpacht 4 fl.  
  Beleuchtung, Schmiere, Riemen, Siebe etc. 1 fl. zus. 15 fl.
   
  Es bleibt ihm also ein Nettolohn von 6 fl.

vorausgesetzt, daß er die ganze Woche über beschäftigt war. Damit hat es nun einen Haken. Im Sommer arbeiten die Perlenschleifer drei bis vier Tage, im Winter, wo es am besten geht, in der Regel vier Tage, ein Viertel etwa volle fünf Tage in der Woche. In der Schleiferei von Ielowei stehen 40 Stühle. Von diesen waren im Winter 1898/99 nur zehn durch fünf Tage in der Woche benützt, alle übrigen nur drei und vier Tage. Der Nettolohn im Tag beträgt nach der obigen Aufstellung 1 fl., der Verdienst der meisten Schleifer beträgt darum jahraus jahrein 3 bis 4 fl., bei den wenigsten im Winter 5 fl. Arbeitsmangel ist keine seltene Erscheinung. So arbeiten gegenwärtig nur 16 Schleifer, und dies wird den ganzen Sommer so sein. Die übrigen 24 mögen zusehen, woher sie etwas zum „Laben“ nehmen.

Dazu kommt, daß fast alle Arbeiter in dem eine Stunde entfernten Drkow wohnen, wo die Anreiherfamilien und die Lieferanten ihren Sitz haben. Dorthin muß der Arbeiter einkaufen gehen,

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er muß dorthin die fertige Ware abliefern, dort muß er die Perlen abwiegen und sich das Anreihen besorgen lassen. Darum wohnt er gleich dort. Dies bedeutet aber, daß er an den Arbeitstagen mindestens 13 Stunden vom Hause weg sein muß: 10 Stunden effektive Arbeit für 100.000 Perlen, 2 Stunden Weg, 1 Stunde Mittagspause. Kommt er dann müde und abgemartert nach Hause, so muß er noch an der Anreiharbeit seiner Familie teilnehmen, um so wenig wie möglich von dieser Vorarbeit außer Haus geben zu müssen.

Einige Ziffern werden die Lage dieser Sklaven grell beleuchten und den Satz beweisen, daß sie völling widerstandslos sind. 1889 noch zahlten die Lieferanten für das Schleifen 15 bis 20 kr. per Tausend. Heute – 1899 – zahlen sie 3 œ kr. So machte sich das Kapital die Vervollkommnung der Produktion zunutze. Für das Tausend Anreihen wurden 1889 4 kr. gezahlt, heute bekommt die Anreiherin für das Auffädeln von 1000 Perlen auf Kupferdraht einen Kreuzer. Geschickte Anreiher sind bei annähernd normaler Arbeitszeit im Stande, täglich 30.000 bis 40.000 aufzufädeln – Ausnahmesklaven bringen es bis auf 50.000. Diese sitzen aber von 4 Uhr Früh bis gegen Mitternacht, also gegen 20 Stunden im Tag bei der Arbeit, um dann einen Lohn von 50 kr. verdient zu haben. Die Folge dieser schlechten Zahlung ist herzloseste Kinderausbeutung. Jede freie Minute müssen diese armen Wesen vor dem Perlenhaufen sitzen und mit den Drahtende hineinstochern, um so die Perlen aufzufangen. Nur so ist es möglich, daß die Anreiherfamilie ihren Hunger stillen kann. Anreiharbeit gibt es viel, da die geschliffenen und polierten Perlen nochmals, und zwar auf Wolle angereiht werden müssen.

Aber nicht nur die Anreiher und Schleifer sind vom Lieferanten so gedrückt. Der Druck kommt von höher. Der Gablonzer Exporteur ist es, der den Lieferanten die Preise drückt; dieser hält sich, so gut es geht, dann an dem Schleifer schadlos, und dieser beutet sich und seine Familie, und, hat er Anreiharbeit auswärts zu vergeben, auch die Anreiher aus. Alle sind gedrück, nur der Exporteur macht das Geschäft. Der Besitzer der Schleiferei in Ielowei ist zugleich auch ein kleiner Lieferant. Seine Rechnung stellt sich per Kilo raffinierter Perlen wie folgt:

  Rohperlen 25 kr.  
  Schleifen 35 kr.  
  Polieren 4 œ kr.  
  Anreihen auf Wolle 10 kr.  
  Wolle 2 œ kr.  
   
 
    77 kr.  
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Ein Kilo Perlen sind durchschnittlich 10.000. Für ein Tausend bietet gegenwärtig der Exporteur 8 kr. Der Lieferant hätte also für alle seine Sorge und Mühe 1/3 kr. beim Tausend oder 3 kr. bei 10.000. Das ist aber noch nicht das Schlimmste. Trotzdem dem Lieferanten selbst das Tausend auf 77 kr. kommt, gab es nach der Behauptung der Lieferanten Exporteure, die ihnen 7, ja sogar 6 kr. als Preis für das Tausend boten. Dabei hat der Lieferant aber noch das Waschen, Einpacken und die Zufuhr zu besorgen.

Unser Lieferant hat neben der Schleiferei auch noch bäuerliche Wirtschaft. Trotz allem lebt er nach seiner Angabe „ganz ordinär“. Wenn ich davon leben sollte, was mir die Schleiferei trägt, so müßte ich zugrunde gehen. Kaum drei Perzent wirft das Kapital von 20.000 fl. ab, das ich hineingesteckt habe. Ja, wenn ständig Arbeit wäre. Aber so; 40 Stühle habe ich eingerichtet, und davon laufen 16 drei bis vier Tage. Anstatt 240 Arbeits- und Pachttage in der Woche, auf die ich eingerichtet bin, haben wir 55, wenn es gut geht, und vor zwei Jahren haben wir einmal in einem Monat ganze sechs Tage gearbeitet mit 15 Stühlen. Den Maschinisten für meine 70pferdige Dynamo muß ich doch fortbezahlen, und Kohle und Öl geht auch auf, die teure Zufuhr trägt das Ihre bei – da ist auf keinen grünen Zweig zu kommen. Der gute Mann hat sich verspekuliert.

Während wir noch sprachen, wurde der bäuerlich gekleidete Mann aufs Feld gerufen, wo er, wie ich später sah, seinen ganzen Mann stellt. Solche Vielseitigkeit, so viel Fleiß, so viel Unternehmungsgeist – und so viel Pech. Es ist, als ob in dieser ausgesaugten Gegend auf Allem Fluch lasten würde.

Ähnlich der Lage der Arbeiter in Ielowei ist auch das Los der Schleifer in der Hübner’schen Schleiferei bei Eisenbrod. Sie zahlen in der Woche für Örtlpacht und mechanische Kraft, die hier eine 24pferdekräftige Turbine liefert, für 1 Draht 1 fl., für 2 und 3 Drähte 2 und 3 fl. und für 4 Drähte 3 fl. 60 kr. Die meisten hier Arbeitenden – es waren im Ganzen 21 Schleifer – lassen nur drei Perlendrähte über den Stein laufen. Ihr gewöhnliches Wochenquantum sind 400.000 Perlen, die sie unter sonst ganz gleichen Bedingungen wie die Arbeiter in Ielowei zum Schleifen übernehmen. Der Profit des Schleifereibesitzers ist hier größer. Er braucht nicht Kohle und Öl, seine Krafterzeugerin, die Turbine, wird von der Iser gespeist, an deren Ufer die Schleiferei wie eine große Mühle hingebaut ist.

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Die Raffinierung der Schmelzperle. Ein guter Teil aller erzeugten Sprengperlen wird zur Schmelzperle

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weiterverarbeitet. Auch hier stoßen wir noch auf recht primitiv eingerichtete Betriebe, in denen der Arbeiter mancherlei Gefahren ausgesetzt ist. Der Schmelzperlenerzeuger kauft von der Sprengerei die rundgeschliffene Halbrohperle, die dann folgenden Prozeß durchmachen muß bis sie zur Schmelzperle wird: Die Perlen werden zunächst durch Waschen gereinigt und getrocknet, dann kommen sie in die Feuerpolitur, wo sie erhöhten Glanz erhalten. Die dritte Station ist die Versilberung auf kaltem Wege. Diese wird in Flaschen vorgenommen, so daß die ganze Perle versilbert ist. Aber nur die Innenflächen dürfen bei der färbigen Schmelzperle die metallische Unterlage haben. Darum müssen die Außenflächen, auf denen sich gleichfalls eine Silberschichte anlegte, von dieser wieder befreit werden. Dies geschieht durch Schütteln in Säcken und durch Bäder. Zum Schluß wird dann die Perle in Töpfen mit den gewünschten Anilinfarben gefärbt, abermals getrocknet und angereiht. So kommt sie in der Handel. Die Manipulation scheint sehr einfach, und sie ist es auch, aber sie fordert große Genauigkeit. Mancher ist schon daran gescheitert. Die Schmelzperle ist mitunter so klein, daß man das einzelne Stück gar nicht mit freiem Auge wahrnimmt. Auf den Schnüren angereiht, hat sie ein prächtiges Aussehen, weniger noch die Buntperle, als der Gold- und Silberschmelz, der auf den ersten Blick ganz den Anblick von Kettchen aus diesen Edelmetallen gewährt. In einem Stadium des Raffinierungsprozesses sehen die aufgehäuften Perlen wie Schnee aus. Das ist nach der ersten Wäsche, wenn die Perlen noch naß neben den Ofen gehäuft werden.

Auch die Schmelzperle war früher ein gut gezahlter Artikel, an dem zu verdienen war. Heute ist dies anders. Früher wurde für das Kilo 1 fl. gezahlt. Bekommt der Raffineur jetzt 25 kr. für das gleiche Quantum, so ist es genug. Das Abfallprodukt des Silbers, das 2 Perzent des Umsatzes ausmacht, wurde früher mit dem Schmutzwasser einfach weggeschüttet, heute werden die Bäder verwertet, und die Schmelzperlenerzeuger gewinnen auf diese Weise 30 bis 35 Perzent des Silbers wieder zurück. Vor 25 Jahren kosteten 10 Bund der dreimal geschliffenen Schmelzperle 2 fl., vor 15 Jahren 1 fl., vor 7 bis 8 Jahren noch 60 bis 80 kr. und jetzt, da die Sprengmaschine die Produktion fördert, werden 10 Bund mit 6 œ bis 8 œ kr. verkauft. Aber nicht nur die Sprengmaschine allein hat diese Revolution hervorgerufen, auch sonst hat ja die Perle aufgehört, Einzelindividuum zu sein. So wie früher der Handsprenger Perle um Perle von dem Hohlstab absprengen mußte, während heute die Stäbe auf das rasend schnell arbeitende Massenschaffot der Sprengmaschine gelegt werden, so war es auch mit dem Schleifen. Die Perlenschleifer von einst hatten

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eine ähnlich primitive Einrichtung wie noch viele Glasschleifer von heute. Einen Holzstab, in dessen obere Bruchfläche eine Stahlspitze getrieben war – eine Nadel oder ein Nagel. Auf diese Spitze mußte Perle um Perle aufgesetzt und Perle um Perle einzeln gegen die rotierende Steinplatte gedrückt werden. Wie heute geschliffen wird, haben wir in Ielowei und Eisenbrod gesehen. In unendlicher Kette ziehen die angereihten Perlen über den Schleifstein: 100.000 Stück im Tag, und früher brachte der Handschleifer 4000 bis 5000 Stück fertig. Das zweimalige Schleifen in der Trommel ist ein womöglich noch rascherer Prozeß, und es wird dadurch das Anreihen der Perlen auf Draht erspart. Daß solche Vervollkommnungen in der Produktion geradezu revolutionär wirken müssen, liegt auf der Hand.

Die Arbeiter in den Schmelzperlenraffinerien stehen in festem Lohn. Es haben, um ein gutes Beispiel aus Wiesenthal anzuführen, bei zehnstündiger Arbeitszeit der Färber 12 fl. Wochenlohn, der Polierer im Tag 1 fl. 65 kr., der Schüttler 1 fl. 45 kr. und die Taglöhner 95 kr. Sonst werden die Polierer mit 1 fl. 50 kr., die Schüttler mit 1 fl. 25 kr. bis 1 fl. 30 kr. im Tag entlohnt.

Im Gespräche mit dem kleinen Schmelzperlenfabrikanten, bei dem ich den Produktionsprozeß kennen lerne, fällt ein charakeristisches Wort. Auch der Fabrikant hat schwer genug zu kämpfen, um ein recht bescheidenes Auskommen zu finden. Er selbst kennzeichnet die Lage der Kleinunternehmer und Arbeiter im Gebirge mit dem zutreffenden Wort: „Wir Alle arbeiten nur für zwei Herren: für den Staat und für Riedl.“ Wer so wie ich dem Halbfabrikat der Riedl’schen Hütten in die verschiedenen Bearbeitungs- und Veredelungstätten gefolgt ist und dort nicht nur die Produktion, sondern auch das kümmerliche Leben aller dieser Menschen kennen lernte, der wird diesen Satz vorbehaltlos unterschreiben. Der nächste Abschnitt wird uns abermals eine Armee von Arbeitern vorführen, die sämmtlich Halbfabrikate der Firma Riedl verarbeiten: die Kristalldrücker und die Schleifer. Auch von ihnen gilt dieser Satz. Aus den dicken Stangen, die wir in allen Farben in den Riedl’schen Magazinen geschaut, verfertigen sie Knöpfe, Lusterbehänge und alle möglichen Phantasieartikel, von deren Reichhaltigkeit und Schönheit sich der Laie gar keine Vorstellung machen kann. Die Schleifer machen aus dem Halbfabrikat „Napl“ und aus Hohlzylindern kunstvolle Serviettenringe, und sie geben durch ihre Kunst glatten Flaschen prächtigen Schliff. Doch eilen wir nicht voraus. Auch im Schleiferland dürfen wir nicht systemlos wandern. Obendrein sind die Schleifer schwach auf der Brust, und es könnte ihnen der Atem ausgehen, wenn wir zu schnell ausschreiten...Also, hübsch bedächtig!