Zwischen Iser und Neisse (A)

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©2007 Transkription von Fraktur zu lateinischen Buchstaben durch Carmen M. Andrews.

©2007 Transcription from Fraktur to Latin characters by Carmen M. Andrews.

Zwischen Iser und Neisse i 1900

Zwischen

Iser und Neisse!

Bilder aus der Glaskleinindustrie Nordböhmens.

Von

Max Winter {Glass-Study.com: Website}

Mit einem Vorwort von Robert Preußler.

Herausgegeben
Von der
Union aller Glas-, keramischen und verwandten Arbeiter
Österreich-Ungarns

Preis 80 Heller

Wien 1900.

Verlag der Wiener Volksbuchhandlung Ignaz Brand, VI., Gumpendorferstraße 18.
Druck- und Verlagsanstalt „Vorwärts“ Frisch & Co., Wien, VI.

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Zwischen Iser und Neisse! iii 1900
©2007 Glass-Study.com

Vorwort

Die Glaskurzwarenindustrie im nördlichen Böhmen ist eine der interessantesten Exportindustrien Österreichs. Nach ihrer Ausdehnung ein wichtiger Faktor unseres Wirtschaftslebens, besitzt diese Industrie eine Vielseitigkeit der Fachgruppen und Unterabteilungen und eine Mannigfaltigkeit an Erzeugnissen, wie wir sie bei keiner zweiten Berufsgruppe wiederfinden.

Nach den Berichten des Sekretärs der Reichenberger Handelskammer finden in der Glaskurzwarenindustrie an 25.000 Arbeiter und Arbeiterinnen Erwerb. Der Absatz ist ein steigender, und immer neue Gebiete im fernen Asien und Afrika werden außer den europäischen Absatzgebieten gewonnen, und die nie versiegende Erfindungsgabe der Lieferanten und Arbeiter führt der Industrie immer neue Lebenselemente zu.

Fällt ein Artikel der schwankenden Mode oder den inneren Konkurrenzverhältnissen zum Opfer, so werden für ihn Hunderte neuer Muster auf den Markt gebracht, die den Neigungen des kauffähigen Publikums entsprechen und den Niedergang der alten Absatzverhältnisse parallelisieren. Keine Industrie, die auf den Export angewiesen ist, hat so günstige Aussichten und so kräftige Lebenselemente wie diese, bei der die Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse des Publikums alle Hindernisse in ihrer Entwicklung überwindet.

Seit 1866 ist daher auch ihr Aufschwung ein ungeahnter, denn zu jener Zeit fanden in ihr kaum 5000 Arbeiter Beschäftigung. Solange man durch die Zahl der Arbeiter den Bedarf nicht decken konnte, stiegen die Arbeitslöhne, und die Arbeiter genossen die Vorteile, die aus der günstigen Lage der Industrie hervorgingen. Die Lieferanten wurden zu wohlhabenden Leuten, und die Exporteure, die

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häufig als frühere Reisende kleine Summen erspart hatten, wurden trotz ihres geringen Anlagekapitals in wenigen Jahren Millionäre. Die schöne Villenstadt Gablonz, welche den Sitz der Exporteure und somit das Zentrum der nordböhmischen Glasindustrie darstellt, gibt Zeugnis von den fabelhaften Profiten aus der „guten Zeit“. Auch die stolzen und anmutigen Steinbauten im Gebirge lassen auf die einstige Wohlhabenheit der Lieferanten schließen.

Seit 1888 hat sich das Bild dieser Industrie fast vollständig verändert, und auf die wenigen erträglichen Jahre sind über die Arbeiter Verhältnisse gekommen, die zu einer Tragödie führten, wie wir sie nur bei den Weberaufständen der Vierzigerjahre wiederfinden.

Im Jahre 1889, wo das Elend der Arbeiter seinen Höhepunkt erreicht hatte und die Ärzte den Hungertyhpus konstatierten, schritten die Glasprenger zum offenen Aufstande. Sie zogen nach Neudorf und Wiesenthal, zerschlugen die Maschinen, schleppten die Waren aus den Magazinen und vernichteten dieselben. Da das von Reichenberg requirierte Militär nicht so schnell in das Aufstandsgebiet einrücken konnte, entwickelte sich eine regelrechte Schlacht zwischen den aufständischen Arbeitern, Gendarmen und Feuerwehren, in deren Verlauf zwei Arbeiter getötet und mehrere verwundet wurden. Die Frau eines getöteten Arbeiters warf sich mit aufgerissener Brust den Bajonnetten der Gendarmen entgegen. Auch unter den Schwarzglasarbeitern von Marienberg und Albrechtsdorf kamen Ausschreitungen vor. Die Kristallglasschleifer und Perlenbläser zogen in ihrer Seelenangst und Not ziel- und planlos durch die Ortschaften, und überall zeigte sich der Entschluß, nach Gablonz zu marschieren, um dort das Werk der Vernichtung zu üben. Das ganze Isergebrige wimmelte von Gendarmen und Militär, und die sonst so stillen, in Naturschönheit prangenden Berge und Täler des Isergebirges waren in ein Heerlager verwandelt. Hunderte von Verhaftungen wurden vorgenommen, und auf den Schrecken des Aufruhrs folgte der Schrecken der öffentlichen und richterlichen Gewalt. Die angeklagten Glasarbeiter wurden insgesammt zu 36 Jahren Gefängnis und Kerker verurteilt.

Die Ursachen dieses unbeschreiblichen Elends sind, wie schon aus der Einleitung unseres Vorwortes hervorgeht, nicht in den Markt- und Absatzverhältnissen der Industrie, sondern einzig und allein in den inneren Verhältnissen dieser zu suchen. Der Kleinbetrieb und die Hausindustrie, die hier vorherrschen, hatten die Widerstandslosigkeit der Arbeiter zur Folge.

Die Produktion war eine vollständig ungeregelte. Wurde viel bestellt, so war die Arbeitszeit eine unbegrenzte und die Qualität der Waren eine schlechte, trat eine vorübergehende Stockung ein, so wollte man bei der steigenden Arbeiterzahl die Aufträge durch

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billige Preise erzwingen. Dadurch wurde die Produktion ins Massenhafte betrieben, und je geringer die Bestellungen waren, umso mehr und umso billiger wurde erzeugt, bis die Arbeiter bei 16- bis 18stündiger Arbeitszeit Löhne von 26 bis 30 Kreuzer erhielten und vor Hunger und Überarbeitung zusammenbrachen. Durch die fortgesetzte Herabsetzung der Preise feierte die Schundwarenerzeugung wahre Triumphe, und es traten infolgedessen wirkliche und lang anhaltende Krisen ein, die schließlich zum Hungertyphus und zu den obenangeführten Exzessen führten. Durch die Schaffung einer Organisation gelang es, vorübergehende Besserung zu erzielen. Im Jahre 1890 wurden in allen Branchen Minimalarbeitslöhne eingeführt, die Schundwarenerzeugung eingeschränkt und durch behördliches Eingreifen eine Reihe sanitärer Übelstände beseitigt. Nach zweijähriger Dauer fielen jedoch die Vereinbarungen, die den gewissenlosen Elementen unter den Exporteuren und Lieferanten wider den Strich gingen, die Organisation unternahm alle zweckdienlichen Schritte gegen die Industrieschädiger, war jedoch zu schwach, um ihrem Drucke, der durch die Indolenz der Behörden und die Mangelhaftigkeit unserer Gesetzgebung begünstigt wurde, auf die Dauer Stand zu halten. Im Jahre 1898 hatte die Not unter den Arbeitern wieder ihre Herrschaft angetreten und auch viele Lieferanten waren durch das System der Schmutzkonkurrenz und Schundwarenerzeugung um ihre letzte Habe gekommen. Die exekutiven Feilbietungen ihrer Grundstücke und Realitäten nahmen ungeheuere Dimensionen an und führten zur Verarmung vieler ehemals blühender Gemeinden.

Da griff die Union aller Glas- und keramischen Arbeiter von Neuem ein und gab den Anstoß zu einer großartigen Arbeiterbewegung, die Zehntausende von Arbeitern auf die Beine brachte, die öffentliche Meinung aufrüttelte und auch die Regierung zu einer Untersuchung der Lage und deren Ursachen zwang. Das Ergebnis der Untersuchung lieferte entsetzenerregende Details zu Tage und führte zu Versammlungen und Enquêten, durch welche endlich ernste Versuche unternommen wurden, das fluchwürdige System des unlauteren Wettbewerbes zu beseitigen.

Diese Versuche, die in der Errichtung einer Produktivgenossenschaft der Perlenbläser zur Konzentrierung des Verlaufes und zur Durchführung einer Konvention in der Kristallgas- und Besatzsteinbranche führten, haben unsere Behauptung, daß nirgends ein so günstiger Boden für Kollektivarbeitsvertäge und für eine durchgreifende Sanierung der Industrie vorhanden sie, wie hier, vollauf bestätigt.

Einige Zahlen mögen dies beweisen. Zur Zeit der Gründung der Genossenschaft waren in der Perlenbranche 900 Arbeiter sprungweise, einmal viel, einmal monatelang gar nicht beschäftigt, die Warenqualität ließ infolge des ungeheueren Preisbruches Alles zu

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wünschen übrig. Der erste Bericht der Genossenschaft weist nach, daß unter 100.000 Bund Perlen rund 1200 Bund zweiter Güte waren, alle anderen Waren erster Güte. Dies hatte ein Steigen des Absatzes zur Folge und am Ende des Berichtsjahres fanden schon 1237 Arbeiter regelmäßige Beschäftigung. Der monatliche Warenumsatz stieg von 3965 fl. im November 1889 auf 54.356 fl. im Dezember 1899. Der Arbeitslohn wurde um 375 Perzent gesteigert und die Arbeiter, die vor dem Bestande der Genossenschaft bei 16- bis 17stündiger Arbeitszeit einen Lohn von 3 fl. per Woche erzielten und nicht genügend trockenes Brot und Kartoffeln hatten, sind heute vor Not und Elend gesichert.

Der im letzten Jahre an die Arbeiter ausbezahlte Arbeitslohn betrug 187.000 fl., auf den früheren Preissatz umgerechnet, hätte derselbe nur 46.000 fl. betragen. Es ergibt sich daher ein Mehrgewinn an Arbeitslohn von 141.000 fl.

Um die Resultate der Konvention in der Kristallglasbranche festzustellen, lassen wir einen großen Unternehmer, Herrn Großmann, sprechen, der als Obmann des geschäftsführenden Ausschusses hierüber Folgendes berichtet:

Die Kristalleriebranche beschäftigt heute, ausschließlich der Ring-und Flakonschleifer, sowie zwischen Weiß-und Schwarzglas wechselnden Arbeiter, rund 1600 Arbeiter und Arbeiterinnen; die Einführung der Minimallohnliste greift auf den 1. Juli 1898 zurück, so daß wir deren Bestand mit zwei Jahren ansetzen können. Veranschlagen wir ein Jahr mit bloß 200 Arbeitstagen und die durchschnittliche Lohnaufbesserung auf 30 Perzent, was einer Steigerung des Lohnes von 80 kr. auf 1 fl. 10 kr. gleichkäme und gewiß als nicht gegen die Wirklichkeit verstoßend anerkannt werden muß, so ergibt dies die Summe von 384.000 Kronen, welche innerhalb zwei Jahren als Lohnplus zur Auszahlung kam.

Berücksichtigen wir weiter, auf welch verhältnismäßig kleines Produktionsgebiet und beschränkte Arbeiterzahl sich diese Summe verteilt, so können wir ermessen, welchen kolossalen Wert, vom volkswirtschaftlichen Standpunkte aus betrachtet, die Schaffung geregelter Lohnverhältnisse hat. In dieser Richtung weißt die Konvention einen unbestreitbaren Erfolg auf.

In unseren Versammlungen wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß es unter den vielen Produktionsstätten auch eine gebe, welche allein in einer Woche 100.000 3“-Birnel erzeuge. Wollen wir nun dieses Quantum zur Unterlage dieses Beispiels nehmen. Zwischen dem Konventionspreise und jenem vom Jahre 1898 ergibt sich ein Unterschied von 1.52 h. pro 100, demnach bei einer Wochenerzeugung von 100.000 Stück ergibt dies einen Betrag von 1520 Kronen und in einem Jahre einen solchen von 79.040

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Kronen mehr, welcher verloren ginge, würden die 1898 Preise wieder die Oberhand gewinnen.

Berücksichtigen wir nur, wie oft aber diese 100.000 Birnel oder Prismen im Jahre auch von anderen Erzeugern gemacht werden, und wir werden finden, daß die Summe eine ganz enorme ist, welche man auf das Spiel setzt. Die seit Gründung der Konvention abgelaufene Zeit hat uns aber auch gezeigt, daß der auswärtige Konsument anstandslos die höheren Preise bewilligt und bezahlt, soferne sich die Anbote in gleicher Höhe halten. Auch die Befürchtung, die erhöhten Preise werden den Konsum oder den Absatz einschränken, hat sich nicht bewahrheitet.

Unter dem Schutze geordneter Verhältnisse vielmehr hat sich das Geschäft in Kristallerieartikeln auf der ganzen Linie gehoben, und wenn zeitweise Mangel an Aufträgen eintrat, so war dies nur das gewöhnliche Saisonbild.

Diese Tatsachen legen unwiderleglich klar, daß durch Schmutzkonkurrenz und Schundwarenerzeugung alljährlich Millionen für die Interessenten der Glaskurzwarenindustrie verloren gehen. Es droht neue Gefahr. Schon sind die Exporteure aus der Konvention der Kristallglasbranche wieder ausgetreten. Die Konvention in der Besatzsteinbranche wurde zwar gegründet, doch die Indolenz der Lieferanten und Exporteure verhinderte ihre Funktion. Auch die Perlenbläser-Genossenschaft war bedroht. Die Folge solcher Gewissenlosigkeit ist, daß tausende Arbeiter der Besatzstein- Knopf- und Serviettenringbranche vor einem neuen Notstande stehen, während die Kristallglasschleifer Mühe haben, ihre Konvention zu erhalten.

Über diese Schuld und über die Lage der Arbeiter Licht zu verbreiten, alle ernst denkenden Kreise auf diese für unser gesammtes Wirtschaftsleben bedeutsame Erscheinung aufmerksam zu machen und das öffentliche Gewissen aufzurütteln, war von jeher die Aufgabe unserer Organisation, und diesem Bestreben haben wir auch vorliegende Arbeit Max Winters zu verdanken, der an Ort und Stelle Erhebungen pflog und uns über alle Details der Industrie und Arbeiterverhältnisse unterrichtet. Wenn man bedenkt, was der Verfasser für Material bewältigen mußte, welche Schwierigkeiten die Vielseitigkeit der Fachgruppen und ihrer Unterabteilungen bot, aus denen Tausende Artikel in den verschiedenartigsten Formen und Farben hervorgehen, dann wird man der Arbeit Winters die Anerkennung nicht versagen.

Winter liefert uns im vorliegenden Buche keine trockene fachmännische Abhandlung, die sich mit Zahlenmaterial und Feststellung tatsächlicher Verhältnisse begnügt; was er uns bietet, ist ein Buch aus dem Leiden und Leben der Arbeiter, welches uns umsomehr erschüttert, als uns Winter keineswegs die Erörterung über die

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Größe und Bedeutung der Industrie vorenthält, sondern seine Schilderungen in den Nachweis ausklingen läßt:

Eine aufblühende und Wohlstand verbürgende Industrie und eine in Elend, Siechtum und Krankheit vergehende Arbeiterschaft.

Winter führt uns in die Rohglasfabriken, Magazine und Musterlager, wo sich die Erzeugnisse der Kunstfertigkeit und des menschlichen Fleißes im strahlenden Gesammtbilde zeigen, er geleitet uns in die Produktionsstätten, um uns zu zeigen, wie die Tausende und Tausende verschiedener Artikel der Glaskurzwarenindustrie entstehen, und bietet uns eine Fülle Material über die Lohn-und Arbeitsverhältnisse, über die industrie-und arbeitermordende Schmutzkonkurrenz und Schundwarenerzeugung unter den Exporteuren und Lieferanten, über die Marktlage und den steigenden Absatz, sowie über die ungeahnte Entwicklungsfähigkeit der Industrie, welches für Behörden, Sozialpolitiker und Gewerkschaftler von unschätzbarem Werte ist. Die Stärke Winters liegt jedoch in der Schilderung der hausindustriellen Arbeitsstätten, die zugleich die Wohn-und Schlafstätten der Arbeiter sind und in welchen sich die ganze erschütternde Tragödie menschlichen Elends und Jammers abspielt. Einzelne Details sind trotz ihrer Einfachheit in der Sprache von geradezu dramatischer Wirkung.

Winter ist ein guter Beobachter, und seinem aufmerksamen Blicke entgeht es nicht, daß dort in den Bergen des Isergebirges ein Völkchen lebt, das trotz seines beispiellosesten Elendes einen biederen Charakter, einen klaren Blick, eine tiefe Poesie und einen gesunden Humor besitzt.

Unter diesen hausindustriellen Arbeitern gibt es gar viele kluge Leute, die nicht nur wissen, was an ihrem Elende schuld ist, sondern die zum klarsten Verständnis der sozialen und kulturellen Probleme der Zeit gelangt sind.

Freilich, die große Masse der Arbeiter steht auch hier noch unseren Bestrebungen fern, obwohl die Glasarbeiterbewegung einen ausgesprochen sozialdemokratischen Charakter hat. Laßt jedoch diese Menschen einmal aufleben und aufatmen, und Ihr werdet Euere Wunder erleben.

Möge das Buch Winters hinausgehen in die große Welt, möge es Verbreitung und Verständnis finden, was hier in so reicher Fülle geboten wird, zum Segen unserer Industrie und zum Wohle der Arbeiter!

Wien, im September 1900.

Robert Preußler

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In der Glashütte.

Im Mai 1899.

Von dem Perlenbläserdorf Marienberg kommend, steht man auf der Bittnerkoppe plötzlich vor einem entzückenden Bild. Der bewaldete Hang fällt schroff zum Tal der Desse ab, deren Wanderlied gedämpft unser Ohr umrauscht. Zur Rechten verliert sich hinter dem Busch, der in frischem Maiengrün prangt, die Straße. An ihr liegen die Rackerburgen von Tiefenbach, Schumburg und Tannwald, die Spinnereien und Webfabriken, deren Sklaven eben in diesen Tagen ihre Ketten gesprengt hatten. Dahinter erhebt sich gebieterisch die Stefanshöhe und auf ihrem Kamm liegen zwei einsame Ortschaften: Wustung und Prichowitz. Sie sind von den Webern bevölkert, die unten im Tale den kargen Lohn erringen müssen, der nicht einmal zur Fristung ihres notdürftigen Lebens hinreicht. Mehr dem Tale zu liegen die zerstreuten Hütten von Schumburg, wo der einsame Sänger des Schleiferlandls, Franz Grundmann, sein weltfernes Heim aufgeschlagen hat. Abgeschlossen wird der Fernblick durch den Riesengebirgskoloß, auf dessen Rücken es noch schneeig glänzt. Uns zu Füßen liegt am Lauf der Desse das liebliche Dessendorf und gegenüber zum Greifen nahe der Dessendorfer Berg. Die Hänge zur Linken sind von dunklen Waldwänden verkleidet. Durch das Schwarzgrün der Fichten guckt da und dort das hellgrüne glänzende Frühlaub der Buche. Auch weiße Birkenstämme blinken dazwischen. Über diesen Berg führt später unser Weg. Vorbei an blühender Kirsche und frischbestellten Feldern steigen wir an der anderen Seite des Dessendorfter Berges nach Polaun hinab. Vor uns im Tale liegen die Riedt’schen Glasütten, das Ziel unserer Wanderung.

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Das Glas, das hier erzeugt wird, ist von feinster englischer und belgischer Qualität. Der Glaskönig Riedl hat ringsum im Lande seine Hütten gebaut. Außer den zwei Hütten in Polaun, die wir im Folgenden kennen lernen werden, haben die Firmen Josef und Karl Riedl noch Hütten in Iser, Kosten, Reinowitz, Grünwald, Josefsthal (2) und Mardorf. Im Ganzen neun. Sonst sind noch größere Glashütten in Gablonz und Harrachsdorf. In allen diesen Hütten sind etwa 2500 Arbeiter beschäftigt.

Den Zwecken der vorliegenden Schrift wird es entsprechen, wenn wir an dieser Stelle den Produktionsprozeß nur in großen Zügen schildern. Länger wollen wir nur bei der Erzeugung der Glasstangen und Stengel verweilen. Dies deshalb, weil wir auf der Wanderung durch das Glasmacherland, wie das Isergebirge mit Recht genannt wird, auf Schritt und Tritt Menschen begegnen, die ihren Lebensunterhalt durch die weitere Verarbeitung und Veredlung der Halbfabrikate, der Glasstengel und Glasstangen, gewinnen. In den rauchgeschwärzten Druckhütten ringsum im Land; in den Perlenbläserdörfern; im „Biehm’schen“ drüben, wie die Glasmacher den Eisenbroder und Semiler Berzirk nennen, wo arme gequälte Menschen vom grauenden Morgen bis in die sinkende Nacht die Besatzsteinchen, einen früher blühenden Modeartikel, in Formen drücken: überall werden die Hohlstengel, die Vollstengel und die Stangen verarbeitet, die in den Riedl’schen Hütten gezogen werden. Die nächste Bearbeitungsstätte aller aus den Stangen gefertigten Halberzeugnisse ist dann die Schleiferei. Dort bekommen die einzelnen Artikel das gefällige Aussehen. Dort werden aber auch andere Roherzeugnisse der Hütten verarbeitet. So namentlich die Serviettenringe und die Flacons.

*

Der Glasmacher an der Arbeit. Gleich beim ersten Ofen der Hütte sehen wir die Rohproduktion der Serviettenringe in ihrer gegenwärtig vollkommensten Form. Es ist ein gewöhnlicher Wechselofen. Im Zentrum des ringförmig angelegten Ofens glüht in den Häfen das über Nacht geschmolzene Glas. In der Mauer, die den Brand umgibt, sind Öffnungen, vor denen je ein Glasmacher seinen heißen Arbeitsplatz auf der etwa ellenhohen Arbeitsgalerie hat, die um den Ofen herum angelegt ist. Die Galerie ist etwa 2 Meter breit. Da oben stehen die braunhäutigen Glasmacher. Ihre Gesichter sind hochgerötet. Dicke Schweißperlen tropfen zu Boden. Die Glasmacher sind beständig einer Hitze von 40 bis 60 Grad ausgesetzt: 40 Grad am äußeren Rand der Galerie, wo sie die weichen Glasklumpen mit Scheren, Zangen, Glätteisen bearbeiten, wo sie die Hohlglassachen durch die Pfeifen aufblasen oder glühenden weichen Glasklumpen, die Klautsche,

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in die Formen pressen; 60 Grad und noch mehr, wenn sie vor der Ofenöffnung stehen und die Pfeife, an deren Spitze der Klautsch klebt, im Brande drehen.

Es ist 7 Uhr Morgens. Am Morgen, so lange das Glas noch weich ist, werden nur kleinere Sachen gemacht. Erst mit dem fortschreitenden Tag werden immer größere und größere Stücke aus der glühenden Masse geformt, die in den Häfen unter dem Einfluß einer Hitze bis zu 1000 Grad immer mehr verhärtet. In den kleineren Hütten, den sogenannten Komposithütten, die man ringsum im Land trifft, die für die Produktion aber kaum in Betracht kommen, währt ein „Brand“, so heißt der Schmelzprozeß des Glases, 24 bis 28 Stunden. Dann erst wird das geschmolzene Glas in den Häfen langsam abgekühlt und verhärtet. In den großen Glashütten erkalten die Öfen nur dann, wenn an ihnen eine Reparatur nötig ist. Die Siemens-Öfen der Ried’schen Hütten werden Abend für Abend frisch gefüllt, das heißt, es werden am Abend immer die mit dem Gemenge von Kieselsäureverbindungen und zumeist Alkalien und Kalk als Basen gefüllten Häfen frisch eingestellt und über Nacht geschmolzen. Am Morgen findet der Glasmacher in den Häfen schon weiches Glas, das unter dem Einflusse der Hitze – in den Riedlschen Hütten ist Gasheizung – immer härter wird. Darum müssen am Morgen aus dem noch weichen Glas kleinere Sachen geblasen oder gepreßt werden. Dazu gehören auch die „Napl“, die Näpfe, aus denen die Serviettenringe gemacht werden. Ein „ Napf“ hat in einer Form immer vier Ringe und einen Boden. Die Form wird als Ganzes den Schleifereien geliefert. Dort erst wird der Boden herausgeschlagen und werden die Ringe absprengt, die dann geschliffen und poliert werden. In der Klaar’schen Schleiferei in Gablonz, dann in den Schleifereien von Johannesberg, Friedrichwald, Albrechtsdorf und anderen Orten werden täglich Tausende solcher „Napl“ gesprengt und die vierfache Anzahl geschliffen und poliert.

Der Glasmacher steht an der Maueröffnung, durch die dem Beschauer ein Blick in den Bauch des Glasofens gewährt wird. Die Luft da innen ist glutig, rot, blendend. Das Auge schmerzt, wenn der Blick direkt in das Glutmeer gerichtet ist, und wir stehen doch 8 Schritte entfernt. Der feuerfeste Mensch da oben aber, der hart an der Öffnung steht, aus der die glühenden Luftwellen herausschlagen, dreht hurtig die Pfeife im „Brand“ – Sekunden nur; dann nimmt er die etwa 2 Ellen lange Stange heraus. An der Spitze ist ein kleiner rotglühender, gerundeter Knauf...glühendes Glas. Er macht 2 Schritte an den Rand der Galerie und „schmiedet“ das Glas auf seiner Arbeitsbank. Er drückt es mit einem Glatteisen, rundet

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es in einer Holzform, die er vorerst mit Wasser befeuchtete, oder er fährt auch mit seiner nassen Hand über die glühende Masse, er zwickt das Glas mit Zangen und zwackt unreine Teilchen mit einer Schere ab. Das Wasser verdunstet rasch. Ein fortwährendes Zischen begleitet die flinke Arbeit. Dampfwölkchen steigen auf. Nun rasch nochmals in den Brand und dann in die Form, die der Gehilfe schon geöffnet und geölt hat. Der Glasmacher senkt die Pfeife in die Form. Ein Druck, und das Stück ist fertig. Während er zur nächsten Pfeife langt, die schon vorher mit dem angewärmten Klautsch dem Brand ausgesetzt war, kommt ein Junge, der mit einer langen Stange den „Napl“ nimmt und ihn in den „Kühlofen“ trägt. Die fertigen Stücke müßen langsam abkühlen. Um dies zu erzielen, werden die von den Jungen mittels der langen, an der Spitze mitunter gegabelten Eisenstangen in Häfen geschichtet, die an der Rückwand des Kühlofens derart liegen, daß der offene Rand des Häfens nach außen gekehrt ist. Vor den Häfen lodert ein mächtiges Holzfeuer. Meterlange Scheiter brennen unter großer Rauchentwicklung auf dem offenen Gluthaufen. Anderswo schlägt der Qualm in die Hütte und erfüllt den geschwärzten Raum mit fast unerträglicher Luft. Hier sorgt eine einfache, wenig kostspielige Vorrichtung dafür, daß die gequälten Arbeiter nicht auch noch dieser Gefährdung ihrer Gesundheit ausgesetzt sind. Über dem offenen Kamin ist ein großer Trichter gestülpt, der in einen blechernen Rauchzug mündet. Die Blechröhren führen bis zum Hüttendach, dessen First durch einen offenen Luftkanal ersetzt ist. Durch diesen Spalt lugt zuweilen ein Streifen hellen Sonnenlichts in die heiße, schwarze Hütte, in der vom frühen Morgen bis zum späten Abend fleißige Menschen ihr Dasein verbringen: die männlichen Meister – auch einige Graubärte sind darunter – die jünglinghaften Gehilfen und die kaum der Schule entwachsenen Knaben, die „Jungen“, die so lange Stück um Stück in den Kühlofen tragen müßen, bis für einen von ihnen ein Gehilfenposten frei wird. Da gibt es kein eigentliches Lernen. Wer das Geschick und die Widerstandsfähigkeit des Körpers hat, um fortwährend in solcher Hitze mit glühenden Glaskörpern zu hantieren, der wird Gehilfe und später wohl auch Meister. Die Wengisten aber kommen bis zu diesem Ziel. Die Meisten fahren noch in jüngeren Jahren von der heißen Hütte in die kalte Grube...

*

Ein Hohlbläser. In dieser Hütte sind 3 Öfen im Brand. Vor dem zweiten Ofen liegen am Erdboden mächtige schwarze Glasballons. Drei, vier solcher Hohlkugeln sind schon fertig. Ein kleiner, schwächlich aussehender Mann mit schlaffen Wangen dreht im Ofen die Pfeife. Da er sie jetzt heraushebt,

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hängt an der Pfeife ein Klautsch von Kindskopfgröße. Er rundet den glühenden Körper in einer Kugelform und fährt mit der Hand über die rotglühende weiche Kugel, so wie ein Schneider, wenn er von einem fertiggestellten Rock noch einige Stäubchen entfernen will. Es zischt auf. Seine Eisenhand bleibt unversehrt. Schon hat er auch diese Hand an der Pfeife, er schwingt den Klautsch, stellt ihn in eine Form, und Pfeife im Munde drehend, bläst er mit vollen Backen hinein.

Der Kindskopf weitet sich bis zur Größe eines Manneskopfes. Rasch nochmals in den Brand. Er dreht und dreht die Pfeife, und daran tanzt im Glutmeer die rote Kugel. Kaum ist sie zu unterscheiden. Glutton verschmilzt in Glutton! Wieder hebt der Bläser die Pfeife aus dem Feuer. Einige Handgriffe an der Kugel, und dann führt er die Pfeife an den Mund. Er dreht und bläst, und die rote Kugel schwillt immer mehr und mehr an. Wie eine Seifenblase am Strohhalm, so klebt jetzt tanzend und schwankend die Kugel an der Pfeife. Aber noch immer bläst der Meister in die Pfeife. Seine schlaffen Backen sitzen nun wie Ballons in seinem Gesichte. Die Adern schwillen auf. Jede Muskel im Gesichte ist wie versteinert. Die Anstrengung ist auch an der Gesichtsfarbe kenntlich. Durch den braunen Grundton schimmern rote Blutwellen. Immer größer wird die Kugel. Jetzt und jetzt glaubt man, muß sie zerspringen, wie Seifenblasen in der Luft zerstieben, wenn die Spannung zu groß wird. Nichts davon! Je größer die Kugel wird, desto mehr flieht die Glutfarbe von ihrer Oberfläche, und jetzt, da der Meister die Pfeife absetzt und, sie leise schwingend, die paar Stufen von der Galerie herabsteigt, um die Kugel zu den anderen zu betten und sie dann von der Pfeife abzuschlagen, jetzt hat die Kugel schon die tiefschwarze glänzende Außenfläche wie die anderen, die bereits am Boden liegen. Das Abschlagen der Pfeife ist höchst einfach. Mit einem Eisenstück fährt er auf der Kugel um den Rand der Pfeife, dann gibt er der Pfeife einen zarten Schlag, und an der Eintrittsstelle der Pfeife in die Kugel entsteht ein offener, ungleichmäßiger Bruch. Die Pfeife ist leicht von den Glasbruchstücken befreit, die noch an ihr kleben. Das Alles, von dem letzten Ausheben der Pfeife aus dem Feuer bis zum Abschlagen der Pfeife, ist kaum das Werk einer Minute. Die Lungenminute eines Glasbläsers! Wie viele solcher Minuten kann er wohl aushalten? Und wie viele Stunden seines Lebens muß er wohl für jede solche Minute höchster Anstrengung hergeben? Jetzt, da er die Glaspfeife vom Munde hat, steckt er die Tabakspfeife in den Mund und saugt den heißen Qualm, der ihm wie Kühlung ist, aus dem Rohr. Während er den Klautsch für die nächste Glaskugel anwärmt und im Brande dreht, pafft er ruhig den Rauch vor sich hin.

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Wozu sollen aber die großen Kugeln? Diese werden in Stücke geschlagen, und mit Benützung der gerundeten Außenflächen werden daraus allerlei Schmuckgegentände gemacht, namentlich Trauerschmuck für Damen. So mag mancher Glasmacher schon das Rohglas geblasen haben, aus dem der Trauerschmuck für seine Witwe später geformt wurde, wenn ihr, der Glasmachersfrau, überhaupt das Geld für solchen äußeren Tand blieb.

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Von dem dritten Ofen, an dem wie bei den beiden anderen Öfen etwa 10 Meister ihre Arbeitsplätze haben, trägt ein Junge soeben eine geschlossene Glashohlwalze auf seinem Zweispieß in den Kühlofen. Die Außenfläche ist wie marmoriert. Die Walze ist etwa 30 Zentimeter lang und hat 6 bis 10 Zentimeter im Durchmesser. Auch daraus werden Serviettenringe gemacht, solche feinerer Art. Aus solchen Zylindern werden auch die Ringe mit überfangenem Glase hergestellt, die dem Auge einen besonders gefälligen Anblick gewähren.

Das Überfangen des Glases ist ein ganz einfacher technischer Vorgang. Ein aus Kristallglas geformter Gegenstand wird durch Eintauchen und rasches Drehen in der flüssigen Farbglasmasse mit dieser überzogen. Beide Glase verbinden sich unzertrennlich; aber es findet keine Farbenmischung statt. Das Überfangen des Glases ist eine sehr beliebte Dekorationsmethode, die den großen Vorteil für sich hat, daß die Dekoration nie verwischen, nie verblassen kann.

Der Meister nebenan, ein Graubart, der schwarze Schutzbrillen trägt – die Meisten tragen dieses einfache und notwendige Schutzmittel gegen die schädlichen Einwirkungen der Gluthitze auf das Auge nicht – verrät uns durch seine Arbeit das Geheimnis einer anderen Dekorationsmethode. Er erzeugt Eiskrüge oder, besser gesagt: Krüge aus Eisglas. Es sind dickbauchige Krüglein mit zierlichem zylindrischen Halse und kleinem Schnabel. Er bläst den durchsichtigen Glaskrug in eine Form, hitzt ihn von Neuem und dreht ihn dann in einem Haufen von Glasgries – gestoßenem und gemahlenem Glase – herum. Hierbei bleiben die kleinen Glasstückchen an dem glühenden Kruge kleben. Ein rascher Abkühlungsprozeß bewirkt, daß die Außenfläche des Kruges zahlreiche kleine Sprünge und Risse bekommt. Dies gibt dann dem fertigen Krug in Verbindung mit den Glasstückchen, die in die Außenfläche förmlich verschmolzen sind, das Aussehen, als wäre er mit Eiskörnchen bestreut. Wasser, in solchem Kruge geboten, scheint nochmals so frisch als Wasser in einem gewöhlichen Kruge. So dient diese namentlich für Trinkgefäße angewendete Dekoration zugleich

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der Illusion. Es wird damit der Macht der Einbildung Zoll geleistet.

Wir werfen noch rasch einen Blick in den Kollergang, wo das Material zur Glasschmelze gemahlen und dann unter großer Staubentwicklung in offenen Trögen gemengt wird. Dies ist eine besonders ungesunde Beschäftigung, bei der der Arbeiter noch jeder Schutzvorrichtung entbehrt. Nicht einmal Respiratoren habe ich angewendet gefunden, und dies wäre doch so einfach und leicht durchzuführen. Mit einem Besuche der Sprengerei, wo die Deckelgebläse von den Glasgefäßen, wohl auch die Böden, wie beiden Serviettenringzylindern, abgesprengt werden, beenden wir den Rundgang durch die erste Hütte, und der führende Beamte weist mir den Weg zu der zweiten Hütte, wo ich in das Leben und Treiben in einer Ziehhütte einen Blick werfen soll.

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In den Glasmagazinen. Das Erste, was ich in diesem zweiten Gebäudekomplex zu sehen bekomme, ist das große Magazin für Glasstangen und Stengel. Der Laie muß von solcher Mannigfaltigkeit überwältigt werden. Hohlstengel von einer Linie im Durchmesser bis zu einem Zentimeter, Stangen von dieser Stärke bis zur Zolldicke und jede einzelne Stange und jeder Stengel in allen Grundfarben und jede Farbe in 40, ja 50 Nuancen, dazu die Unterscheidung von hellen (durchsichtigen und durchscheinenden) und satten Farben, wie Türkis, Japangelb, Karneol – alles dies ist hier in den drei Stockwerken des Magazins zu sehen. Im untersten Magazin stehen wir einem Wald von Glasstangen gegenüber. Jede ist etwa 2 Meter hoch; ihrer 10 bis 15 sind immer zu einem 20 Kilo schweren Bund mit Stroh zusammengeknüpft, und Bund reiht sich an Bund an den Ständern, an die sie gelehnt sind; Farbe an Farbe. Hier der Rubin, dort durchscheinendes Kristall; hier Smaragd und dort wieder Bernsteinimitation, da Kristallstangen mit zarten Farben überfangen, dort Aquamarin und Amethyst, kurz ein Farbenkonzert, wie es schöner, reicher nicht gedacht werden kann. Alle diese Stangen werden in den niederen, rauchigen Druckhütten zu allen erdenklichen Gebrauchs- und Luxusartikeln verarbeitet, namentlich aber zu Lusterbehängen, Knöpfen, Schnallen und allerlei sonstigem Damenschmuck. Unsere Wanderung führt uns später in viele solche Hütten. Wir werden noch reichlich Gelegenheit haben, zu hören, was Menschenfleiß und menschliche Begabung und Geschicklichkeit aus allen diesen Stangen formen.

Im nächsten Saale starren uns von allen Ständern schwarze Glasbünde entgegen, und am Boden und auf Tischen sehen wir Bündel von ellenlangen, bleistiftdicken Stangen übereinandergeschichtet. Diesen Stengeln begegneten wir etliche Tage vorher in den czechischen

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Dörfern des Semiler Bezirks in jeder der armseligen Behausungen – andere als armselige gibt es dort nicht – die wir betraten. Aus ihnen drücken die „Lampenarbeiter“ Tag für Tag Tausende der kleinen Steinchen, die dann zu Posamentrien für Damenkleider angereiht werden.

Im dritten Stockwerke stoßen wir auf das Rohmaterial, das die armen Perlenbläser des Isergebirges verarbeiten. 200 Hohlstengel oft in einem Bündel, und Bündel ruht auf Bündel und hundertfach ist wieder das Farbenspiel, an dem sich das Auge freut. Die Gedanken fliegen freilich fort in die Elendstätten, wo dieses schöne, reinliche Material verarbeitet wird, wo die Nächte zu Tagen werden, zu Tagen unsäglicher Arbeitsqual, wo fleißige, nimmermüde, ausgemergelte Männer und Frauen ein freudloses Dasein führen und wo die einzige Lebensfreude notwendig die Qualen dieses Daseins steigern muß, weil sie die Zahl der hungernden Mägen steigert. Bei einem Bündel innen gerippter Stengel freilich stellt sich neben die Elendsbilder, deren Erinnerung noch allzu frisch ist, auch die Erinnerung an ein jüngst geschaffenes Werk und an einen Mann, der mit diesem Werke auf das Innigste verknüpft ist. Dieser verarbeitet nämlich solche gerippte Stengel zur Feingoldperle. Dieser äußere Umstand lenkt meine Gedanken auf die Produktionsgenossenschaft der Perlenbläser, deren geistiger Urheber und unermüdlicher Förderer eben dieser Mann, Herr. Dr. Weißkopf aus Morchenstern, ist. Die Produktivgenossenschaft hat mit vielem Geschick und Glück den Kampf gegen das maßlose Niederkonkurrieren des Welthandelsartikels Hohlperle aufgenommen, und dieses Institut wird auch die armen Perlenbläser allmälig wieder besseren Verhältnissen entgegenführen, indem es die frühere fessellose wilde Produktion in geregelte Bahnen weist. Auch darüber kann ich auf eine später folgende genaue Darstellung verweisen. In der Riedl’schen Ziehhütte in Polaun werden die Stengel für alle möglichen Perlen erzeugt. Nicht nur die Perlen, die die Augen der „besseren Menschen“ der Wilden in Afrika und der Halbwilden in Asien erfreuen und die deshalb der wichtigste, oft der einzige Tauschartikel der Händler und Forscher im Verkehr mit den wilden Völkerstämmen sind, werden aus diesen Stengeln geformt, auch die Grabkranzperlen, die in vielen tausend Bündeln alljährlich nach Paris wandern, wo sie einen geschätzten Modeartikel zur Ehrung der Toten – auch darin macht sich die Mode geltend – abgeben; die bunte, eckige Perle, die, zu Kolliers angereiht, auf den Dorfjahrmärkten das Sehnsuchtsziel gar mancher zukünftigen Dorfschönen bildet; der Schmelz, mit dem das schwache Geschlecht die Kleider behängt, damit es schwerer zu tragen hat – alle diese, von der kleinsten mit freiem Auge kaum sichtbaren

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Perle bis zu den nuß- und taubeneigroßen Perlen aller Farben und Formen, werden aus den Stengeln geblasen, geformt und gesprengt, die wir hier in bunter Fülle aufgestapelt sehen.

Und der Wert aller dieser Bunde und Bündel? Für ihren Besitzer, den Millionär Riedl, sind sie als fertiges Produkt Kapital, das täglich in bare Münze umgesetzt wird; für die Tausende Glasarbeiter aller Branchen, die das Isergebirge bevölkern, sind sie das teure Halbfabrikat, dessen Verarbeitung ihnen bei hartem Frohn kaum die notwendigsten Mittel zur Fristung einer weit unter das Niveau menschenwürdigen Daseins herabgedrückten Existenz sichert. Den Glasarbeiter, der diese Räume beschauend durchschreitet, können kaum andere als trübe Gedanken beschleichen. Schon klebt das Blut der Glasmacher an jeder einzelnen dieser glänzenden, gleißenden Stangen, aber noch unendlich mehr Menschenblut wird ihre weitere Bearbeitung kosten. Dem Besitzer bedeuten die Stangen nur Profit: Profit erstens in der Form des Mehrwerts, der Profit des Fabrikanten, der Profit der aus den wirklichen Erzeugern, den Arbeitern, gezogen wird, und zweitens bedeuten sie für ihn den Profit, der aus den Verarbeitern gezogen wird, den Konsumenten, in diesem Falle wieder aus Arbeitern, und zwar noch mehr geknechteten Arbeitern. Dieser ist der Profit des Kaufmanns.

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In der Ziehhütte. Durch eine Reihe von Arbeitsräumen und Gängen gelangen wir nach Öffnen der nächsten Türe ziemlich unvermittelt in einen langen gedeckten Gang, der sich uns zur rechten und linken Hand 180 Meter lang dehnt. Er ist etwa 4 Meter breit. Beim Betreten dieses Ganges mahnt mich der führende Beamte zur Vorsicht beim Gehen. Ich sehe auf den Boden. Über die Holzdielen laufen feine, buntfärbige Glasstengel, auf fußbreitem Raum hunderte, wie Fäden über- und nebeneinander liegend. Die etwa fußbreiten Räume zwischen den einzelnen Stengeln sind den menschlichen Füßen reserviert, die vom frühen Morgen bis zum Anbruch des Abends durch diesen Gang springen müssen. Wir befinden uns in der Zugbahn der Ziehhütte. Schon sehen wir auch die Art des Betriebes in ihrer ganzen Lebhaftigkeit von Augen. Eben als wir in den Gang treten, schießt ein kleiner, dem Aussehen nach kaum 14jähriger Junge in schnellem Lauf an uns vorüber. In der Rechten hält er mit der Spitze gegen den Boden eine Pfeife, von der ein birnenförmiger Klautsch sich in eine schier unendliche Glaslinie verliert. Im Weiterspringen wird der Klautsch immer kleiner und kleiner, bis endlich fast das ganze glühende Glas bis auf ein kleines Perlchen von der Pfeife gezogen ist. Atemlos langt der Springer am Ende der Bahn an. So heißen nämlich diese

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armen Jungen, von denen mir der Beamte erzählt, daß die Hütte immer etliche, 10 bis 15, ausprobieren muß, bis einer kräftig und dennoch behend genug ist, diese Arbeit auszuhalten. Seine Lunge und die Beine müssen widerstandsfähig sein – dann kann er diese im Vergleich zu den Einnahmen der hausindustriellen und „freien“ Arbeiter glänzend, in Anbetracht der Gesundheitsschädlichkeit elend entlohnte Arbeit verrichten. Die Springer sind von der Hütte bezahlt, und zwar mit 5 Gulden wöchentlich. Dafür müssen sie den ganzen Tag über in jäh wechselnder Temperatur flink auf den Beinen sein – die 90 Meter lange Hälfte der Zugbahn wohl 100mal täglich im Laufschritt durchmessen und dieselbe Strecke vom Ende der Bahn bis in deren Mitte, wo der Ofen steht, ebenso oft wieder zurückgehen. Das gäbe täglich 9 Kilometer Laufschritt und ebensoviel Kilometer Eilmarsch. In diesem Tempo vollzieht sich der Rückweg. 9 Kilometer Laufschritt, 9 Kilometer Eilmarsch – dazu in den Zwischenpausen die Einatmung der heißen Luft, die dem Ziehofen entströmt. Man wird zugeben, das sind für 14jährige Jungen (es gibt wohl auch heute noch schulpflichtige darunter* [Dr. I. Singer stellt in seinen “Untersuchungen über die sozialen Zustände in den Fabriksbezirken des nordöstlichen Böhmen” nach der amtlichen, den Stand des Jahres 1880 ins Auge fallenden Industriestatistik fest, daß in den Glashütten des Reichenberger Handelskammerbezirkes auf je 1000 Arbeiter 96 Kinder unter 14 Jahren kommen. Der jetzige Stand der Kinderarbeit ist mir unbekannt, doch begegnete ich namentlich auch in den Hütten vielen Knirpsen, die dem Aussehen nach kaum 14 Jahre zählten. D.B.] ) ganz respektable Leistungen, und nun wird auch die Äußerung des Beamten verständlich, der darüber klagt, daß es der Hütte so schwer ist, taugliche Jungen für solche Arbeit zu bekommen.

Während wir der Mitte der Zugbahn zuschreiten, springt schon wieder ein Junge heran. „Achtung!“ ruft er im Laufen, und kaum sind wir zur Seite getreten, saust er auch schon mit der Pfeife vorbei. Sein Auge muß auf den Boden achten, damit seine unbeschuhten Füße im schnellen Lauf nicht auf die Bündel von Glasfäden springen, sondern sich immer hübsch auf dem einen Brett fortbewegen. Nach der anderen Richtung der Bahn geht inzwischen im Schnellschritt der Zieher. Er hat beim Ofen das andere Ende des birnenförmigen Klautsches mit einer Zange angefaßt und geht nun rasch in der entgegengesetzten Richtung der Zugbahn. Er muß darauf achten, daß der Zug gleichmäßig wird und daß der Klautsch nicht etwa allzu rasch verkühlt. Darnach richtet er wohl auch seinen Schritt ein. Der Zieher ist der eigentliche Gehilfe des Glasmachers, und er wird auch von diesem bezahlt. Das monatliche

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Gesammteinkommen Beider – des Ziehers und des Glasmachers – beträgt 100 bis 120 fl. Davon erhält der Gehilfe, der Zieher, 25 bis 35 fl., so daß dem eigentlichen Glasmacher 75 bis 85 fl. Lohn verbleiben. Die Entlohnung geht durchwegs nach Akkordsätzen – der Arbeiter ist stets sein eigener Antreiber oder, besser gesagt, der Hunger ist der Vogt, der über die Hüttensklaven die Geißel schwingt.

Die Arbeit des Stangenmachers ist der ähnlich, wie wir sie in den früheren Abschnitten diese Kapitels bereits geschildert haben. Auch ihm ist die Hitze der größte Feind seiner Gesundheit und seines Körpers, und auch er muß die Kraft seiner Lungen verkaufen, so lange verkaufen, bis er sie völlig aufgezehrt hat. Dennoch sind die Hüttenarbeiter mit Recht von Tausenden und Abertausenden Arbeitern der Glaskleinidustrie ringsum in allen Dörfern beneidet, denn ihre Einnahmen sind unvergleichlich höhere als die der hausindustriellen und „freien“ Arbeiter, ihre Existenz ist mehr gesichert, und die Gefahren ihrer Arbeit sind noch gering gegenüber den Gefahren und Qualen, die Tausenden anderer Proletarier im Gebirge ringsum drohen.

Wir werden in einem späteren Kapitel den Betrieb in kleineren Ziehhütten kennen lernen und dabei auch Gelegenheit haben, die wesentlichen Vorteile der Großproduktion auch in diesem Zweige produktiver Arbeit auseinanderzusetzen. Für jetzt wollen wir noch einig weitere Arbeitsräume der Riedl’schen Hütte durchwandern. Die Stengel werden zunächst mit großen starken Scheren von dem Glasmacher oder seinem Helfer in ellenlange Stücke geschnitten. Die Arbeit des „Abziehens“ geht sehr flott von statten. Der Glasmacher durchschneidet, in der Ziehbank hockend, immer ein ganzes Bündel von Stengeln auf einmal. Nach jedem Schnitt zieht er den Rest der Stengel auf das Maß und schneidet wieder ein Bündel ellenlanger Stengel ab. Die so „abgezogenen“ Stengel kommen in den Sortierraum, wo sie nach Stärken und Farben gesichtet und zum Verkauf oder zur Weiterverarbeitung hergerichtet werden. Ein gut Teil der Stengel verarbeitet Riedl selbst in seiner Perlensprengerei, einem großen Saal, der unter strengstem Schutz gegen die neugierigen Blicke Fremder steht. Die dort verwendete Perlensprengmaschine und ihre Wirkung auf die Industrie findet der Leser in den Kapiteln über die Sprengperle und die Besatzsteinindustrie geschildert. Die gesprengte Perle, die häufig auch eckig, an den beiden Sprengflächen aber immer scharfkantig ist, kommt in eine Muffel, in der die Perlen mit einem Gemenge von Holzkohle und Sand rasch und so lange herumgeworfen werden, bis sich die scharfen Kanten runden. Durch Sprengmaschine und Muffel wurde die Arbeit vieler Tausende Menschen überflüssig, die seither (Ende

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der Achtziger-Jahre) durch Unterbietung ihrer Arbeitskraft einen einstblühenden Artikel – die Besatzsteine – niederkonkurriert haben.

In der Riedl’schen Gürtlerei und Bronzewarenfabrik, aus der früher die prächtigen Dekorationen zu allen möglichen feinen Glasgegenständen hervorgingen, werden heute, dem Zuge der Zeit folgend, fast ausschließlich die Metallbestandteile der elektrischen Beleuchtungsartikel hergestellt. In der Malerei begegnen wir auf Lampenkugeln und Lusterschalen Ormamenten, die sich für den ersten Moment wie Randleisten aus der Münchener „Jugend“ ansehen. Die neue Richtung in der dekorativen Kunst hat hier einige sehr begabte Jünger gefunden. Auch in der Metzerei macht sich der Einfluß der Moderne geltend. Wir werfen noch einen Blick in die Feuergräber, wie man die Öfen bezeichnen könnte, in denen die Malereien gebrannt werden. Da die bemalten Gegenstände nicht direktem Feuer ausgesetzt werden dürfen, kommen sie in eine eiserne Muffel, die in einer Mauervertiefung dem Feuer ausgesetzt ist. Gegen Luftzutritt von außen sind diese Öfen mittelst kleiner eisener Türen abgeschlossen. Diese Türen erinnern an die eisernen Türen, die zu Großvaters Zeiten vor den da und dort in die Friedhofsmauern eingefügten Gräbern der Standespersonen als Verschluß angebracht wurden.

Damit sind wir mit dem Rundgang fertig. Wir haben ein, wenn auch schwaches, Bild von der Erzeugung des Rohmaterials der Halbfabrikate gewonnen, und wir können unsere Wanderung durch das Gebirge getrost antreten. Wir werden – und damit sei gleich die Einteilung der vorliegenden Schrift verraten – in den nächsten Kapiteln folgende Industriegruppen kennen lernen: 1. Die Besatzsteinindustrie. 2. Similisteine, Gablonzer Gürtlerei und Glasspinnerei. 3. Die Perlenindustrie und 4. die Schleiferei mit ihren Untergruppen: Serviettenringschleiferei, Kristallerie, Flaconschleiferei und Schwarzglas und Phantasieartikel. In den Kapiteln über die Besatzsteinindustrie und die Schleiferei werden wir auch in den Druckhütten Einkehr halten und die Sklaverei dieser „freien Arbeiter“ kennen lernen. Das Schlußkapitel wird den Malern gewidmet sein. Wir werden darin Proletariern begegnen, die wahre Kunstwerke schaffen und selbst – obwohl im Verhältnis zu den Anderen noch gut entlohnt – ein eher kümmerliches Dasein führen müssen.